Hillmoor Cross. Shannon Crowley. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Shannon Crowley
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958130425
Скачать книгу
verließ. Natürlich blieb alles still, Ella hatte ja eben den Bus genommen. Die Düsternis der Wohnung, die mit schweren Möbelstücken, dunklen Teppichen und dicken Vorhängen vor den Fenstern eingerichtet war, bedrückte ihn. Für sein Empfinden konnte man in diesen Räumen kaum atmen. Aber das Zimmer bei Ella war günstig, und Blackstone lag von Westport auch nicht weit entfernt. Als er noch Arbeit gehabt hatte, war das ein nicht zu unterschätzender Vorteil gewesen. Jeden Mittag, wenn seine Schicht anfing, war er mit dem Rad zu Mac Ewans Pizza-Express gefahren und spät abends wieder zurück.

      Auf Strümpfen – die ausgetretenen braunen Lederschuhe in der Hand, um ja keinen Schmutz auf dem dicken Flor der Auslegeware im Flur zu hinterlassen – tappte Henry Richtung Treppe. Zwischen zwei Zimmertüren im Gang hing ein riesiger Spiegel mit protzigem goldlackierten Rahmen. Für einen Augenblick blieb er davor stehen. Er fand, er sah aus wie ein Landstreicher. Die alte Jacke und die billige Hose schlotterten um seinen Körper, und rasiert hatte er sich seit über einer Woche nicht mehr. Nun denn, es gab Wichtigeres.

      Henry schob sein Rad durch den kalten dunklen Hausflur, wo er es, trotz Ellas heftigem Protest grundsätzlich abstellte.

      »Ich kann es ja schlecht draußen auf dem Gehweg lassen, wo jedermann darüber stolpern oder es klauen kann«, hielt er dagegen, während Ella zeterte.

      »Wer sollte das rostige alte Ding klauen wollen? Hier im Flur hat es jedenfalls nichts zu suchen«, regte sich seine Vermieterin auf.

      »Was weiß ich? Gibt genug arme Schlucker auf der Welt. Und wenn ich das Rad los bin, kann ich nicht mehr zur Arbeit. Und die brauche ich, um Ihnen die Miete zu zahlen.«

      Ella hatte weiter vor sich hin geschimpft, und Henry hatte weiter sein Rad im Flur abgestellt. Nun hob er es über die drei Stufen vor der Haustür auf den Gehweg hinunter. Vor ihm lagen etwa 15 Kilometer, die er in die Pedale treten musste. Ihm taten jetzt schon Bein- und Gesäßmuskeln weh, wenn er nur daran dachte.

      *

      Jake kam die Fahrt zurück nach Hillmoor Cross endlos vor. Die Sonne war hinter dicken grauen Wolken verschwunden. Es war kurz nach halb fünf Uhr und begann schon zu dämmern. Aus dem Kofferraum drang kein Laut; Jakes Hände schwitzten in den Einweghandschuhen, und in seiner Unterhose spürte er das abgerutschte Kondom, das er vorhin in der Eile an seinem Platz gelassen hatte. Aber das musste warten. Erst musste er den Jungen in der Nähe des Kindergartens loswerden. Am besten, er fuhr wieder in die Scheune und legte den Kleinen am Waldrand ab. So konnte er heimlaufen, sobald er wieder bei Bewusstsein war. Als Jake in die Seitenstraße einbog, kam ihm ein kleines rotes Auto in flottem Tempo entgegen. Hastig senkte er den Blick. Er spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach.

      ›Ruhig, ganz ruhig‹, redete er sich stumm zu. ›Kein Mensch merkt sich unter normalen Umständen das Kennzeichen eines entgegenkommenden Autos.‹ Er sah den Kleinwagen im Rückspiegel entschwinden.

      Die Türen der Scheune standen, wie er erwartet hatte, noch immer offen. Falls der alte Schuppen überhaupt noch einen Besitzer hatte, so schien sich dieser für die Hütte nicht zu interessieren.

      Jake stellte den Motor ab, verließ das Auto und spähte vorsichtig durch die Flügeltüren. Die Sicht war schlecht, es war zwischen den Bäumen schon recht dunkel, und nun war es auch kalt geworden. Er lauschte, doch alles war ruhig. Jake öffnete den Kofferraum und hob den Jungen heraus. Schlaff, aber schwerer als zuvor, hing der Kinderkörper in seinen Armen. Er machte ein paar Schritte zum Waldrand und hielt inne. Das genügte – nur nicht zu nahe an die Straße gehen. Vorsichtig legte er seine Last ab. Nach kurzem Zögern entfernte er die Paketschnur, die noch immer um die Hände des Kleinen geschlungen war. Das Klebeband über dem Mund konnte der Junge selbst entfernen. Jake richtete sich auf, stutzte und ging wieder in die Knie. Er beugte sich über das Kind und hielt sein Ohr nahe an dessen Gesicht. Nichts, kein Atemzug drang aus der Nase, das pfeifende Geräusch war verstummt. Eiseskälte fuhr ihm in alle Glieder. Hastig legte er die flache Hand auf den mageren Brustkorb, spürte dünne Rippenknochen durch den labbrigen Stoff des Pullovers und wartete. Nichts, kein Heben und Senken mehr. Jake war es, als spränge ihn wilde Hysterie von allen Seiten an, er packte und schüttelte das Kind. Nein! Es konnte nicht sein, dass der Junge tot war. Es konnte und durfte nicht sein!

      Hastig riss er dem Kind das Klebeband vom Mund. Es heftete sich an den dünnen Plastikhandschuhen fest. Nahezu hysterisch und mithilfe seines Knies drückte er die klebrige Seite in den Waldboden, bis sich der Streifen lösen ließ. Dann beugte sich wieder über das Kind und hielt selbst die Luft an. Er wartete, bis er ein Stechen in der Brust spürte und meinte, bewusstlos zu werden. Kein Atemzug streifte leicht und warm seine Wange. Nichts. Das Kind war tot. Eisiges Grausen erfasste ihn. Am liebsten hätte er losgebrüllt und mit Fäusten auf den Waldboden geschlagen. Wieso, verdammt, war der Junge tot? Zu viel Betäubungsmittel? Ihm ging durch den Kopf, mit welcher Härte er den Schwamm beim zweiten Mal in das kleine Gesicht gedrückt hatte. Oder hatte er ihn dabei gar erstickt? Jake keuchte und fürchtete plötzlich, sich übergeben zu müssen. Mühsam atmete er durch. Er tastete nach dem Handgelenk des Jungen und suchte vergeblich nach dem Puls. Er war sicher, ihn trotz der Handschuhe spüren zu müssen, wäre er noch da gewesen. Auch an der Halsschlagader merkte er nichts mehr. Für Sekunden, die ihm endlos vorkamen, hockte er neben dem toten Kind auf dem kalten Waldboden. Schließlich rappelte er sich hoch. Hier konnte der Junge nicht liegen bleiben. Er musste ihn verschwinden lassen. Jake hob ihn erneut hoch, sammelte das Klebeband, an dessen Unterseite nun trockene Tannennadeln hingen, und die Paketschnur ein und legte den kleinen Körper mitsamt dem Fesselmaterial zurück in den Kofferraum.

      Erneut startete er den Wagen und fuhr im Schritttempo und ohne Licht aus dem Wald. Sein Gehirn weigerte sich zu begreifen, und doch handelte er wie unter Zwang. Sein Ziel waren die Cliffs of Moher.

      *

      Henry Miller lehnte sein Fahrrad an den Gartenzaun aus kräftigen braunen Holzlatten, der das Grundstück um das alte Gehöft einfasste. Die Wolken, die aufgezogen waren, tauchten den Nachmittag in trübes Licht, als bräche die Dämmerung bald herein, obwohl es eigentlich noch zu früh war. Gelegentlich fegte ein Windstoß über das Land. Henry suchte das gedrungene Gebäude mit den Augen ab und runzelte die Stirn. Hinter keinem der kleinen Fenster brannte Licht. Klar, er hätte vorher anrufen können, um sich zu vergewissern, dass Jake zu Hause war. Aber zumindest mit Martha hatte er schon gerechnet, auch wenn diese nicht erfreut sein würde, ihn zu sehen. Er öffnete das Gartentürchen, ging zur Haustür und betätigte den altertümlichen gusseisernen Türklopfer. Vielleicht saß der alte Geizkragen ja beim Licht einer Petroleumlampe am Küchentisch. Die Küche ging nach hinten hinaus, die konnte er von hier aus nicht sehen.

      Die Daumen in die Taschen seiner billigen Windjacke eingehängt, wartete Henry. Nichts rührte sich. Frustriert kickte er einen Kieselstein vom Fußweg. Es konnte doch nicht sein, dass er den weiten Weg von Blackstone bis in die Einöde am Rand von Connemara auf sich genommen hatte und nun niemanden antraf! Er setzte sich auf die Stufe vor der Haustür und beschloss, sich nicht von der Stelle zu rühren – und wenn er dabei schwarz würde. Etwas anderes blieb ihm ja ohnehin nicht übrig, dank Ella und Luke. Die steinerne Stufe war kalt, und die Kälte kroch ihm in die Glieder. Erste schwere Regentropfen platschten vom Himmel. Henry zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch. Das war wieder typisch für ihn. Er stolperte einfach vorwärts und stand nun vor verschlossener Tür. Theoretisch konnte Jake längst woanders wohnen und Martha verstorben oder verreist sein, oder sie hätte gar das Haus verkauft haben können. Er hob den Kopf und suchte nach dem Türschild. Es war an der Hausmauer angebracht, rechts auf Höhe der Türklinke. Tatsächlich stand noch immer der Name ›Almond‘ drauf, sorgfältig mit Kugelschreiber geschrieben, leicht verblasst, in kantiger Schrift. Marthas Schrift. Ein Scheibchen aus Plexiglas sorgte dafür, dass die Witterung den Namenszug nicht vorzeitig unleserlich machte. Der Regen wurde stärker. Mist. Henry erhob sich. Der kalte Sitzplatz war auf die Dauer nichts für ihn. Er wollte eine Runde ums Haus gehen und in die Fenster spähen, nur aus Neugierde. Die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, spazierte er um die beiden Nebengebäude und stand schließlich vor der überdachten Terrasse, deren Boden aus großen grauen Steinquadern bestand.

      Zwei weiße Korbsessel mit bunten Kissen und ein runder Tisch mit eingestaubter Glasplatte schienen auf Besucher