5 Prozent. Matthias Merdan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Merdan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783724524373
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Ort in der Rigistrasse?»

      «Wir, Wagen 21, mit den Kollegen Wanner und Meyer, und hinter uns Wagen 34, mit …, ach, weiss nicht wer drinsitzt», kam sofort die Antwort.

      «Walder und Schnider», ergänzte der zweite Funkkontakt.

      «Wir fahren jetzt in dem Moment vor das Anwesen Rigistrasse 69.»

      «Was sehen Sie?»

      «Moment, wir steigen mal aus.»

      Das Funkgerät übertrug Stille; Autotüren öffneten sich, wurden wieder zugeschlagen, Gesprächsfetzen, Stille. Kälin hielt das Funkgerät unbewusst immer fester. Plötzlich:

      «Also, wir sind vor Ort in der Rigistrasse 69. Ein unauffälliges vierstöckiges Gebäude. Weisse, grosse Balkone, es ist ruhig. Keine verdächtigen Personen. Keine verdächtigen Fahrzeuge. Alle Fenster sind geschlossen. Sollen wir reingehen?»

      «Ja. Klingeln Sie, gehen Sie rein und schauen Sie sich um. Machen Sie Anwohner ausfindig und fragen Sie die nach irgendwelchen Auffälligkeiten oder Veränderungen.»

      «Okay. Machen wir.»

      «Nein. Warten Sie. Falls doch etwas passiert.»

      Scheisse, dachte sich Kälin. Verstärkung? Ja? Nein? Verdammt.

      «Warten Sie noch.»

      Kälin blickte auf eine an der Wand hängende funkgesteuerte Digitaluhr. Die dunkelgrauen Ziffern auf hellgrauem Hintergrund zeigten 14:29:09. Die Sekunden tickten so langsam, dass Kälin zwischen jeder Veränderung ein neuer Gedanke kam: Wenn das wahr ist, bin ich geliefert. Verstärkung? Evakuierung? Natürlich, wir müssten evakuieren! Aber das geht in so wenigen Sekunden nicht. Das ist ein blöder Scherz, oder?

      14:29:58 – 14:29:59 – 14:30:00 – 14:30:01 –

      «Und?» Kälins Stimmlage verschob sich vom Bariton zum Mezzosopran.

      «Nichts», antwortete Meyer tiefenentspannt.

      Kälins Blick fixierte weiter die Zahlenbewegungen an der Uhr: 14:30:10 – 14:30:11 – 14:30:12.

      «Und?», fragte er ein zweites Mal.

      «Immer noch nichts», erwiderte Meyer.

      «Nein. Nichts. Nur zwei Vögel zwitschern. Dohlen, oder sowas Ähnliches», ergänzte Walder per Funk.

      Kälin grinste und spürte Entspannung wie nach einem heissen Saunagang an einem eiskalten Wintertag.

      Plötzlich schoss das Geräusch einer Explosion durch das Funkgerät und traf Kälin wie der rechte Haken von Mike Tyson am linken Ohr.

      Der Polizist riss mit schlagartig zusammengekniffenen Augen den Kopf zur Seite – so weit weg vom Telefonhörer, wie es seine Armlänge ermöglichte.

      Panisch drang es aus dem Funkgerät: «Scheisse. Scheisse, verdammt! Es hat gekracht. Eine Explosion. Oh verdammt!»

      «Auf dem obersten Balkon ist irgendetwas in die Luft geflogen! Ein Feuerball, der ungefähr zehn Meter in die Höhe steigt. Ich kann hier unten die Hitze spüren. Verflucht. Was war das?»

      Kälin fühlte eine derart intensive Verkrampfung seines Magens, dass er alle Kraft benötigte, um ein «Was?» hervorzubringen.

      Die Verbindung brach ab.

      «Hallo?»

      «Es hagelt Putz und Dachziegel.»

      «In welchem Umkreis?»

      «Beton und Teile einer Dachrinne hängen in einer Baumkrone.»

      Kälin war kurz davor, das Funkgerät zu zerdrücken.

      «Klumpen, Fetzen, Splitter, Scherben bedecken die ganze Strasse auf einer Länge von zwanzig Metern. Oder dreissig.»

      Schweigen.

      «Hören Sie mich, Kälin?»

      «Ja.»

      «Ich glaube, ich bin taub. Es pfeift in meinen Ohren. Verflucht. Die Karosserie unseres Dienstwagens ist total übersät mit Gebäudeteilen. Und eine Staubwolke schwebt die Strasse entlang.»

      Kälin kaute nervös auf seiner Unterlippe und hörte, wie die Beamten auf der anderen Seite im Chor husteten. Im Moment, als er dachte, es hätte nicht schlimmer kommen können, meldete sich der schreiende Kollege wieder:

      «Es hat den vorderen Teil der Betonbrüstung des Balkons weggerissen. Das Teil ist vom vierten Stock auf den Dienstwagen der Kollegen gekracht. Das Autodach ist eingedrückt und die Seitenscheiben sind rausgeflogen. Reto ist da noch drin. Ich hoffe, wir kriegen ihn da raus.»

      Die verbale Reaktion Kälins erweiterte sich auf «Scheisse, verdammte Scheisse!»

      «Wir brauchen Hilfe. Sofort. Feuerwehr. Wir brauchen die Feuerwehr. Der Dienstwagen muss aufgeschnitten werden. Der Balkon brennt. Und irgendetwas Brennendes fliesst auf den darunterliegenden Balkon. Alles ist voller Scherben und Staub.»

      3

      Ursprung von Fionas aggressiver Lebensphilosophie war dieser ausgeprägte Vater-Sohn-Konflikt. Eigentlich ein Vater-Tochter-Konflikt, aber als einziges Kind ihres prominenten Vaters hatte sie die Rolle des Ersatzsohnes inne. So blieben ihr die zärtlichen väterlichen Zuwendungen verwehrt, von denen sie als Tochter neben Brüdern sonst etwas zugeteilt bekommen hätte.

      Während einer Geschichtsstunde an der Kantonsschule Stadelhofen erfuhr sie von der Kindheit Friedrichs des Grossen. Dessen Vater – Friedrich Wilhelm I. – befahl seinem Sohn, mit Zinnsoldaten und Miniaturkanonen Krieg zu spielen, womit der preussische Soldatenkönig zeigte, was er von seinem Sohn erwartete, nämlich die bedingungslose Übernahme der eigenen Anschauungen – im Leben wie in der Politik. Der junge Friedrich interessierte sich dummerweise nicht im Geringsten für den rigiden Erziehungsdruck des Vaters und die Monotonie des Soldatentums; er konnte schlecht schiessen und verabscheute die Jagd. Der Sohn versuchte, vom Hof des Vaters zu fliehen, was misslang und die Hinrichtung der Fluchthelfer zur Folge hatte.

      Fiona drohte innerhalb einer Familiendynastie von Wirtschaftsjuristen und Lokalpolitikern das gleiche Schicksal. Zumindest höchstwahrscheinlich. Die emotionslosen, sachdienlichen Hinweise ihres Erzeugers bezüglich Lebensgestaltung und Karriereplanung wurden ihr zur Provokation – wodurch sie wiederum das Provozieren lernte. Fiona lernte das Provozieren so vollständig, dass sie agieren konnte, ohne auch nur ansatzweise Harmonie oder Konsens mitdenken zu müssen.

      In ihrer frühen Jugend begann eine fröhliche Zeit des militanten Anarchismus. Es entwickelte sich in ihr der unstillbare Drang, die Eidgenossenschaft brennen zu sehen. Oder zumindest Zürich. Alle kapitalistischen Nationen der Erde entsorgten, Fionas Meinung nach, ihre effektivsten Arbeitskräfte in Zürich. Eine Bevölkerung selbstverliebter, sozial verarmter Arschlöcher sei das Resultat. Der Kanton Zürich sei ein Schurkenstaat, in dem sie an der Heimatfront für Gerechtigkeit demonstrierte. Ihre moralische, ökonomische und politische Sicht wurde anfangs noch mit Vati diskutiert und dann schnell für unlösbar erklärt, was Fiona denselben Status innerhalb der Familie einbrachte, den bereits ihre Mutter in den verächtlichen Augen ihres Vaters innehatte.

      Mit dem Eintreten der Explosion kamen Kälin sofort die Regeln der Artikulation von Panik und Versagensängsten für Führungspersonen in den Sinn.

      Erstens: Erregung verhüllen, um nicht als unprofessionell und handlungsunfähig zu gelten und somit schlagartig unter einem amorphen – also undefinierbaren, unklar von wo ausgehenden und wo entstandenen und wie weiter entwickelten – Autoritätsverlust zu erkranken.

      Zweitens: Sei auf keinen Fall der Erste, der Angst zeigt oder von «Katastrophe» spricht. Vermeide hierzu alle Vokabeln, die dich irgendwie in Verdacht bringen, du seist der Erste, dem der Arsch auf Grundeis läuft. Das verräterische Vokabular ist von Dienststelle zu Dienststelle unterschiedlich, aber in der jeweiligen Dienststelle erkennbar. Auch reflexartige Schuldzuweisungen oder Kurzatmigkeit, introvertierte Blicke und eine gebeugte Körperhaltung