5 Prozent. Matthias Merdan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Merdan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783724524373
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im Süden bis zur Gladbachstrasse, im Osten bis zur Hinterbergstrasse, im Norden bis zur Germaniastrasse und im Westen bis zur Blümlisalpstrasse. Die Kontaminierung ist schwach.»

      «Und die Information der Öffentlichkeit? Sie können doch auf gar keinen Fall mit der Sache hinterm Berg halten», sagte Hammermann, tief ein- und ausatmend.

      «Das geht Sie nichts an. Das ist unsere Sache», schimpfte Lammert. «Wir hadern noch mit der Kommunikation. Eine Pressemitteilung in der die Vokabeln ‹Bombe›, ‹Radioaktivität› und ‹Terror› enthalten sind, würde einen emotionalen Super-GAU auslösen. Momentan weiss niemand, was los ist. Und jetzt kommt’s …»

      «Was, es wird noch schlimmer?», wollte Huber wissen.

      «Sie hat ein Ultimatum gestellt. Bis morgen, 14 Uhr 30, hätten wir Zeit, ihre Forderungen zu erfüllen.»

      «Welche Forderungen, verdammt noch mal?», hakte Huber nach.

      «Diese würde sie uns mitteilen, sobald wir ihr Glauben schenken würden.»

      «Glauben schenken?», echote Hammermann.

      «Glauben schenken; das müssen wir ihr jetzt leider.»

      Raphaël Lammert rutschte seinen sitzenden Körper im wackelnden Dienstwagen nach oben, wankte leicht hin und her, als ob er sich ausbalancieren müsste und zeigte mit je einem Zeigefinger auf die Ermittler Huber und Hammermann. «Sie beide führen das Gespräch mit dieser Fiona Rosenwiler. Sie sind die besten Ermittler und Verhörspezialisten vor Ort. Finden Sie heraus, was sie will, und vor allem, wie glaubhaft sie ist. Ist das vielleicht ihre einzige Bombe und der Rest ist blosser Bluff, oder kann sie die Stadt in Schutt und Asche legen? Ausserdem, mit wem arbeitet sie zusammen? Ich glaube nicht, dass die das völlig allein hingekriegt hat. Mittlerweile durchsuchen wir ihre Wohnung, versuchen, alles über sie herauszufinden, was nur möglich ist. Wir werden Sie während der Vernehmung oder Verhandlung, was immer das sein wird, auf dem Laufenden halten.»

      Huber und Hammermann starrten mit entgleister Miene abwechselnd zu Lammert und zueinander, während der dunkelblaue BMW mit Blaulicht und Martinshorn vorbei am Casino (hier habe ich letztes Jahr meinen kompletten dreizehnten Monatslohn durch den Schornstein gejagt, dachte Huber und wunderte sich über diesen Flashback), zur Kapo-Zentrale steuerte.

      Der BMW stoppte hinter dem Gebäude, die vier Türen wurden aufgerissen, alle vier Männer sprangen heraus und rannten in das Gebäude.

      Auf dem Gang zum Vernehmungsraum blieb Hammermann abrupt stehen, sodass er das ganze Quartett ausbremste, und wendete sich Lammert zu. «Ich für meinen Teil hätte gerne noch einige Informationen.»

      Raphaël Lammert nickte. «Fragen Sie.»

      «Welchen Sprengstoff hat sie benutzt?», wollte Hammermann wissen.

      «Scheissegal», fand Huber.

      Lammert war dagegen konstruktiver: «Das gleiche Zeug wie dieser Anders Breivik, der Oslo-Attentäter und andere Amateurbombenleger.»

      «Die gute alte Mischung aus Dünger als Sauerstoffträger und Dieselöl als Kohlenstoffträger», fachsimpelte Huber.

      Verärgert, nicht ohne Sarkasmus, ergänzte Lammert: «Kurz im World Wide Web nachgelesen, dann findest du raus, 94,7 Prozent Ammoniumnitrat und fünf Prozent Heizöl, dazu noch zur Wirkungsverstärkung Aluminiumpulver und Manganoxid. Fertig.»

      «Und den radioaktiven Dreck? Wo hat sie den her?», fragte Hammermann.

      «Wissen wir noch nicht. Der Dreck, wie Sie es nennen, stammt höchstwahrscheinlich aus der Industrie, dem Gewerbe, der Medizin. In Krankenhäusern wird radioaktives Material zur Tumorbestrahlung benutzt. Radioaktiven Ausschuss erzeugen die Forschung in Physik und Chemie und die Landwirtschaft. Zum Beispiel in der Lebensmittelindustrie wird Radioaktivität zur Sterilisation genutzt.»

      Huber ergänzte: «Man muss nicht lange suchen und du findest Cobalt-60, Strontium-90, Plutonium-239, Americum-241 und Cäsium-137.» «Hör auf», stoppte ihn sein Kompagnon.

      Gleichzeitig wendeten sich alle vier wieder in dieselbe Richtung und schritten zum Verhör.

      Lammert, einen Schritt voraus, öffnete die Tür zum Nebenraum des Vernehmungszimmers. Hinter der Glasscheibe, die von der anderen Seite verspiegelt war, blickten alle vier auf Fiona Rosenwiler. Fast andächtig blickten sie durch die Glasscheibe – sich geistig sammelnd –, ein wenig flehentlich, verursacht durch die Angst vor Unberechenbarkeit. Ihr Unterbewusstsein beschäftigte sich derweil mit der Frage, durch welche Opfer eine Milde zu erkaufen wäre.

      «Wahrscheinlich hat sie das radioaktive Zeug aus Schurkenstaaten importiert», fuhr Raphaël Lammert fort, «der Zoll sucht zwar ziemlich genau mit Detektoren, aber in kleinen Mengen geschmuggelt, hat man gute Chancen, es ins Land zu kriegen.»

      «Das ist doch wahnsinnig kompliziert», dachte Huber laut.

      «Nein, ist es nicht. Sie vergessen, Rosenwiler wohnt in Zürich. Sie hat ewig Zeit, Wohnungen anzumieten; als Mieterin hat sie ewig Zeit, ihre Bömblis zu basteln und dann zu installieren, sie hat keinen Zeitdruck beim sukzessiven Import von radioaktiven Abfällen. Sie ist kein Terrorist, der unter Zeitdruck steht, also auf politische Aktualität reagieren muss, dem eine Flucht vom Tatort gelingen muss. Auch logistisch befindet sie sich in ruhigen Gewässern. Sie kennt jede Nuance der Stadt und ist beispielsweise auf einen Locationscout oder andere Teammitglieder nicht angewiesen.»

      Huber blickte auf sein mühevoll aus der hinteren Hosentasche gezogenes Smartphone und informierte seine Frau, dass sie unbedingt morgen früh ihre Tochter in die Krippe bringen müsse. Nachtschicht! Die Nachricht endete mit dem Scheisshaufen-Emoji.

      5

      Die Grösse des Verhörraums, in den ein Festgenommener geführt wurde, verriet die Bedeutung des zu Befragenden. Im Voraus unglaubwürdige Zeugen oder harmlose Kleinkriminelle wurden in Nebenzimmern mit weniger als zwölf Quadratmetern befragt; man sass an Tischen, die nicht mehr als zwei Personen Platz boten, weil vorherzusehen war, dass sich Dritte für das Gespräch sowieso kaum interessierten.

      Rosenwiler sass in einem vierzig Quadratmeter grossen Raum, ausgestattet mit zwei Mikrofonen, zwei Kameras, einem drei Meter langen Tisch, der vor einer Spiegelwand, hinter der sich wohl gerade eine grössere Anzahl Beobachter drängen würde, stand. Der Vernehmungsraum war des Weiteren so eingerichtet, wie es die Vorschriften für solche Räumlichkeiten vorsah: ohne Auffälligkeiten an den Wänden wie Bilder oder eine grelle Farbgestaltung, keine Drehstühle, die ein Herumpendeln zulassen würden, sondern Stühle mit Stuhllehnen in steilen Winkeln, um ein Entspannen zu erschweren, keine herumstehenden oder herumliegenden Gegenstände wie Zimmerpflanzen oder Möbel.

      Huber und Hammermann betraten mit erhöhtem Puls und feuchten Handflächen den Verhörraum und rochen Eau d’Hadrien – konnten den Duft aber nicht identifizieren.

      Die Duftnoten von sizilianischer Zitrone, Grapefruit, grüner Mandarine, Ylang-Ylang und Zypresse überforderten ihre ungeschulten Nasen.

      Rosenwiler hatte vor einem Jahr Chanel No. 5 ad acta gelegt, obwohl sie ein Faible für die Modeschöpferin Coco Chanel, die Form des Flacons und die Legenden um die Entstehung des Dufts hegte. Eine besagte, dass der weltberühmte Duft nur durch einen Mischfehler entstand. Ihrer Meinung nach hatte Chanel No. 5 in der Kopfnote mit seinen typischen Anklängen an Rosenblätter und Orangenblüten ein leichtes Plus vor Eau d’Hadrien, doch war ihr die Herznote von Chanel No. 5 – Jasmin, Rose und Irisbutter – nach acht Jahren zu gewöhnlich geworden.

      Carlo Hammermann spürte wieder, wie wichtig es war, schön zu sein und sich schön zu fühlen. In Anbetracht dieser bildhübschen Zürcherinnen konnte ein Mann sich schon mal unscheinbar fühlen. Ja sogar Terroristinnen sahen in dieser verdammten Stadt verdammt gut aus. Ohne hinzusehen, befühlte er seine manikürten Fingernägel und fand keine unebene oder gar spitze Stelle. Mit leichten Bewegungen seiner Zehen verinnerlichte er den makellosen Sitz der für ihn massgeschneiderten, seinem Polizistendasein Würde verleihenden Schuhe von Don Majordome aus rostbraunem Stiernackenleder.