5 Prozent. Matthias Merdan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Merdan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783724524373
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verüben zu wollen, und bis zur Klärung des Auftritts dieser Dame bleibt sie in Haft.»

      Welti unterdrückte ihre Verwunderung über das Aussergewöhnliche, betrat das Zimmer, stellte sich seitlich versetzt hinter Fiona zur Bewachung und fungierte fortan als Türsteherin.

      Kälin, der immer noch einen Schritt vor der Tür stand, schrie zu einem weiter entfernt arbeitenden Kollegen: «Hey Marcel, komm mal her. Wir müssen leider etwas abklären.»

      Der Untergebene eilte zu seinem Vorgesetzten und vernahm mit leicht hochgezogenen Schultern seine Anweisung: «Diese Dame behauptet, in wenigen Minuten, um genau vierzehn Uhr dreissig, würde am Zürichberg eine Bombe explodieren. Diese Bombe sei nicht lebensgefährlich, würde aber Radioaktivität freisetzen. Schick zwei Streifenwagen in die Gegend. Einen zur FIFA, einen zum Unispital. Wir müssen sehen, was passiert.»

      «Müssen wir nicht evakuieren?», traute sich Marcel zu fragen.

      «Den ganzen Zürichberg? Ich glaube, die Tusse is ne Koksbraut und nicht ganz dicht.»

      Unvermittelt schrie es aus dem Vernehmungszimmer:

      «Vergessen Sie die Geigerzähler nicht, sonst haben Sie Probleme, den Wahrheitsgehalt meiner Aussage zu überprüfen.»

      Kälin drehte sich um und plärrte zurück: «Das reicht – treiben Sie es nicht zu weit!»

      Marcel nickte, blickte in das Zimmer zu der ihm unbekannten Frau, strafte die Frau mit einem bösem Blick, um seinem Vorgesetzten zu gefallen, drehte sich um, marschierte in grossen Schritten davon und begann mit der Ausführung des Befehls.

      «Heute werde ich keine Überstunden machen», sagte Kälin zu sich selbst und dachte an die kleine Brünette mit dem Silberblick in seinem Fitnessstudio.

      Kälin blieb noch einen Moment wie isoliert von Raum und Zeit auf dem Gang stehen; er hörte seinen Atem, während er sich fragte, was das zu bedeuten hatte. Er konnte sich unmöglich vorstellen, dass diese eloquente Eidgenossin eine Terroristin sein solle. Mehr und mehr wuchs in ihm die Vermutung, dass es sich bei dieser Terrormeldung um einen Scherz handle. Aber aus welchem Grund sollte man ihm einen Scherz spielen? Er hatte kein Dienstjubiläum, war nicht Vater geworden, hatte keinen Geburtstag, und war auch selbst kein Scherzkeks, der mit Racheakten, oder besser gesagt Rachescherzen, zu rechnen hatte. Vielleicht wurde er durch die versteckte Kamera des Schweizer Fernsehens auf die Schippe genommen, wie es ihm schon einmal widerfahren war.

      Allerdings widerfuhr Kälin dies als Privatmann; das Schweizer Fernsehen hatte es noch nie gewagt, Polizisten oder andere Beamte aufs Korn zu nehmen.

      Häufig wurden Beamte angehalten, selbst als Lockvögel zu agieren. Er erinnerte sich an eine Verstehen-Sie-Spass-Sendung, bei der auf einem Parkplatz Polizeibeamte verdutzte Verkehrsteilnehmer nach ihren Führerscheinen fragten. Als diese sie den Beamten aushändigten, bedankten sich die Beamten und meinten, damit Vogeldreck von der Windschutzscheibe ihres Dienstwagens kratzen zu müssen. Er fand es nicht witzig, aber die Erinnerung daran kam ihm gerade hoch.

      So etwas oder Ähnliches könnte es nicht sein.

      Vielleicht ist es ein Angriff der Presse, der nationalen oder internationalen. Irgendeine Zeitung testet, wie ernsthaft das Land mit terroristischen Bedrohungen umgeht, will wissen, wie und in welcher Weise reagiert wird und in welcher Geschwindigkeit; ähnlich wie das englische Boulevardblatt «The Sun» immer wieder Mitglieder der Königsfamilie oder Trainer der Premier League durch getarnte Mitarbeitende hinters Licht führte und die Opfer dann dem öffentlichen Spott aussetzte. Das musste es sein. Eidgenossen waren keine Terroristen – schon gar nicht im eigenen Land. Das war ihm klar. Sich zu erkennen gebende Terroristen, die ihren Personalausweis aushändigten und freiwillig auf die Möglichkeit der Flucht verzichteten, verstiessen gegen jede Logik. Seine langjährige Menschenkenntnis oder besser gesagt, Kriminellenkenntnis, sagte ihm, Leute mit dem gepflegten Aussehen, gut gewählter Sprache und dem Verhalten dieser Fiona Rosenwiler waren stets Drogenkonsumenten oder psychisch beeinträchtigte Personen, deren Medikation gerade nicht stimmte.

      Kälin beendete seine Gedankenspiele und betrat wieder das Zimmer, in dem Fiona mit ihrem rechten Fuss, der locker über das linke Bein geschlagen war, nervös wippte, bewacht von Welti, die an ihren auf dem Rücken verschränkten Fingern zupfte.

      «Geht es Ihnen gut?», fragte Rosenwiler, als er sich gerade wieder vor sie hinsetzte.

      «Ich hoffe, Ihnen geht es gut, und Sie sind bei Verstand.»

      Kälin schrie wieder den Namen «Marcel». Er drückte ihm den Ausweis von Fiona in die Hand und meinte: «Überprüfen!»

      Marcel nickte kurz und verschwand.

      Kälin wendete sich wieder, mit düsterer Miene, seiner Festgenommenen zu. «Nehmen Sie Drogen?»

      «Nein. Nicht mehr. Zahlt sich in Sachen Sozialprestige nicht aus», informierte sie knapp.

      «Medikamente?»

      «Hin und wieder mal ein Aspirin gegen meine seltenen Kopfschmerzen.»

      «Also gut. Tun wir so, als seien Sie eine Terroristin. Haben Sie Komplizen?», fragte Kälin, als würde er sie ernst nehmen.

      «Nein. Ich teile nicht gerne. Ausserdem ist es fast unmöglich, Mitstreiter zu finden, die sich nicht profilieren wollen. Teamwork ist eine Fantasie, die sich in der staatlichen oder sozialistischen Arbeitsorganisation oder in Behindertenwerkstätten ausleben lässt – nicht bei guten Verbrechen.»

      Er reagierte nicht.

      «Sie wissen um Ihre Inhaftierung, Frau Rosenwiler, und dass es bereits ab jetzt schon teuer wird?»

      Sie hielt Blickkontakt.

      Plötzlich kam Marcel wieder zur Tür hinein, hielt ein Blatt Papier in der Hand, reichte es Kälin mit den Worten: «Die Kollegen sind vor Ort.»

      «Danke», rief er dem wegtretenden Marcel hinterher.

      Kälin blickte kurz auf den Zettel und spürte eine leichte Beunruhigung aufsteigen. Bei dem Ausdruck handelte es sich um das vom Polizeikommando geführte kantonale Strafregister von Fiona Rosenwiler. Darauf war mehr vermerkt als auf einem offiziellen polizeilichen Führungszeugnis. Kälin erfuhr kurz und knapp Daten und Gründe von Rosenwilers zahlreichen Verhaftungen; Fotos von Gesicht und Fingerabdrücken zierten ausserdem den Computerausdruck.

      «Sie sind kein unbeschriebenes Blatt, wie ich sehe.»

      «Nein, ich bin ein beschriebenes Blatt. Wie alle Menschen. Nur bei mir kann man nachlesen, was darauf steht.»

      «Aha, ist das alles, was auf Ihr beschriebenes Blatt darauf gehört? Oder müsste man da noch was ergänzen?»

      Oh, er wird souverän, dachte sie und konterte: «In Strafregistern werden nur Vergehen vermerkt, für die man erwischt wurde, nicht für die begangenen. So soll es auch bei meinen bleiben.»

      Sie schmunzelte und veränderte ihre Beinstellung, indem sie nun mit beiden Füssen den Boden berührte. Rosenwiler blickte erneut auf ihre Luxusuhr und meinte: «Es ist nun an der Zeit, die Dienstwagen korrekt zu postieren, wenn sie schon keine Geigerzähler dabeihaben. Fahren Sie in die Rigistrasse 69.»

      «Und dann?»

      «Dann warten Sie, bis es BUMM macht.»

      Kälin schnaubte und zog seine Mundwinkel nach unten.

      «Hey, Rigistrasse 69», schrie er zu Marcel, «die sollen da hinfahren; irgendwas passiert da, oder auch nicht. Zwei Dienstwagen.»

      «Brauchen wir Verstärkung?», schrie Marcel zurück.

      Fiona antwortete in der gleichen Lautstärke: «Nein.»

      Ihr Puls stieg.

      Kälin blickte verhasst auf Rosenwiler, erhob sich und verliess mit den Worten an seine wachende Kollegin, «passen Sie auf sie auf», den Raum.

      Welti konzentrierte sich reflexartig auf ihre eigene Oberarmmuskulatur und bewegte die Schulterblätter auf und ab.

      Kälin