Flucht. Benjamin Withmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Withmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945133941
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nur antworten? Sie blieb stumm.

      »Weißt du, wie viele andere mich hier besuchen kommen?«, fragte er.

      »Tante Patsy?«

      »Einmal im Jahr. Am Sonntag vor meinem Geburtstag.«

      Dieses Prickeln. Als ob sich ihre Haut langsam umstülpen würde. Sie würgte es ab. Er ist müde, das ist alles. So oft du auch schon hier gewesen bist, so etwas hat er noch nie bei dir ausgelöst. »Es gibt sonst niemanden, den ich besuchen könnte«, sagt sie. »Und da das Gefängnis direkt bei mir um die Ecke ist, soll es wohl einfach so sein, dass ich hier jemanden besuchen komme.«

      »Sie lebt nur eine halbe Meile von hier und hat nichts zu tun«, sagt er. »Du hast viel am Hals. Du hast die Farm.«

      »Die Farm macht kaum Arbeit.«

      Er ließ seine Zigarette in die Blechdose fallen, ohne sich darum zu scheren, sie vorher auszumachen. Er rieb sich die Augen, und da war es wieder, dieses kurze Grinsen. Müde.

      Sie sah zum Wärter hinüber. Er beachtete sie nicht. Niemand tat es.

      »Ich hab gehört, er ist nicht mehr bei dir«, sagte er. »Ethan.«

      »Was ist mit ihm?«

      »Was soll sein. Er ist nicht mehr da.«

      Neben Dayton saß eine Frau mit geföhntem Haar, eine Packung Marlboro auf dem Tisch. »Entschuldigen Sie«, sagte Dayton zu ihr.

      Die Frau wandte sich zu ihr um.

      »Kann ich mir eine Zigarette nehmen?«

      Die Frau schob ihr Packung und Streichhölzer zu.

      Dayton zündete sich eine an. »Er ist nicht mehr da.« Sie stieß den Rauch in die Luft, schob die Packung zurück in Richtung der Frau.

      »Du bist jetzt alleine da oben?«

      »Es gibt noch ein paar andere Leute.« Das war zwar nicht gelogen, stimmte aber nur zum Teil. »Nicht dauernd, aber normalerweise schon. Ich hab Hilfe.«

      Er war aufgedreht, aufmerksam. »Ich möchte sehen, was du damit gemacht hast.«

      »Womit gemacht?«

      Als sie ihre Zigarette zum Mund führte und mit ihren Fingern die Lippen berührte, bewegte sich seine Hand erneut, als ob er die Glasscheibe berühren wollte. Es fühlte sich für sie so an, als sei es seine Hand, seine Finger auf ihren Lippen.

      »Die Farm«, sagte er.

      Auf Daytons Plexiglasseite gab es Aschenbecher aus Glas. Die Zigarette war erst zu einem Viertel geraucht, aber sie drückte sie aus. Die Frau mit den geföhnten Haaren sagte leise etwas.

      »Warum hast du sie dir angesteckt?«, fragte Mopar.

      Dayton machte eine Grimasse, ihr Magen war in Aufruhr. »Keine Ahnung.«

      »Du hast gedacht, du probierst es, weil du hier mit mir sitzt und weil ich rauche?«

      »Genau.«

      »Um zu sehen, ob es zu dir passt?«

      »Es ist nicht meine erste Zigarette.«

      »Nein«, sagte er. »Das habe ich auch nicht gedacht.«

      Er war müde. Das sagte sie sich selbst, nachdem sie gegangen war. Nur müde, das war alles. Sie hatte ihn schon mindestens dreißig Mal besucht, und nie hatte er in ihr ein unangenehmes Gefühl hervorgerufen. Nicht ein einziges Mal. Er war nur einfach müde. Er hatte versucht, mit ihr herumzualbern, wie Cousins es nun mal tun, und es war bei ihr schief angekommen. Das war alles.

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      Es ist die Sirene gewesen.

      Das war es, was sie aufgeweckt hatte.

      Meistens kann sie das Heulen gar nicht hören, nur in bestimmten Nächten. Wenn es von der Hauptstraße rechts abbiegt, eine Kaltfrontschneise über die Wiese auf der Nordseite der Stadt hochzieht und dann den Dos Tortugas Mountain hinaufschallt, vom Mond abprallt, und als Querschläger um den Jackleg Canyon herum, bis an ihr Fenster kommt und ans Glas klopft.

      Im Aschenbecher auf dem Schreibtisch neben dem Weihnachtsbaum liegt noch immer ein halber Joint. Sie lächelt.

      Und dann verfliegt ihr Lächeln.

       4

       – Die Zeitungsleute –

      Stanley Hartford sitzt in einer Bar in Denver, nimmt einen Schluck aus einer Flasche Coors. Die Wände sind mit Girlanden aus künstlichen Fichtenzweigen dekoriert, die Lampen mit Lametta und bunten Lichtgirlanden dekoriert. Eine Statue der berühmten Budweiser Clydesdale-Pferde, die einen großen Bierschlitten ziehen, steht auf der hinteren Theke neben der großen Coors-Wanduhr. Noch sind es ein paar Stunden, bis der Billardsalon unter Stanleys Zimmer im Milner schließt. Das Klicken der Kugeln, die Streite, die Biersäufer und Nutten. Es gibt Nächte, in denen Stanley durchschläft, aber heute wird das nicht so sein. Heute gibt es dort ein Buffet. Der Gedanke an sein mickriges günstiges Zimmer über dem verdammten Billardsalon macht Stanley wütend. Wenn er könnte, würde er sein Leben in einen Mixer schmeißen.

      Es gibt keine anderen Gäste. Silvesterabend. Der Barkeeper hat sein Geschirrtuch über der Schulter hängen und liest ein Taschenbuch. Seine Haut hat einen Graustich und wenn er redet, klingt es so, als hätte er Konversationskurse an einer Universität für Redekunst besucht. Es gibt nicht einen einzigen Vokal oder Konsonanten, den er nicht betont.

      Während er so den lesenden Barkeeper beobachtet, bereut Stanley es beinahe, dass er sich selbst nicht auch ein Buch mitgenommen hat. Seit Wochen hat er nicht mehr gelesen. Er sieht vor lauter Lücken die Wörter nicht. Das Schlimmste an alldem ist, dass es noch nie eine interessante Scheidung gegeben hat und auch niemals geben wird. Es ist die blödsinnigste Sache der Welt, aber wenn man mitten drinsteckt, gibt es nichts anderes mehr. Es saugt dir das Gehirn durch die Ohren raus und macht dich wütend auf dich selbst.

      Dieses verdammte Leben.

      Das ist Stanley in letzter Zeit ziemlich oft durch den Kopf gegangen.

      Der Barkeeper sieht von seinem Buch auf und fragt: »Noch ein Bier?«

      Stanley schaut auf die Uhr. Zum wiederholten Male. Dann nickt er.

      Der Barkeeper nimmt einen Öffner und macht eine Flasche auf. In der Geschichte des Flaschenöffnens hat vermutlich noch niemand den Öffner auf derart perfekte Weise benutzt. Stanley kommt es so vor, als sei er in Dreharbeiten geraten. »Sie sind kein Barkeeper, oder?«, fragt er.

      Der Barkeeper schiebt ihm die Flasche zu. »Sir?«

      »Den Job hinter der Bar machen Sie nur nebenbei, stimmt’s? Ich hab das auch getan, als ich angefangen habe zu arbeiten.«

      »Ich bin auf der Schauspielschule, Sir.«

      »Verdammt.« Stanley haut auf die Theke. »Das war mir sofort klar, als ich Sie gesehen hab.«

      Die Eingangstür geht auf und wieder zu, Garrett Milligan nimmt sich den Hocker neben Stanley. »Spendierst du mir ein Bier?« Garrett ist einer der jungen Fotografen, die von der Rocky Mountain News angeheuert wurden, um die Seiten des neuen Zeitungsformats zu füllen. Er trägt einen billigen Anzug aus dem Kaufhaus der Denver Dry Goods Company.

      »Dieser Anzug ist zum Weglaufen«, sagt Stanley.

      »Der hat was, oder?«, sagt Garrett. »Meine Frau hat ihn mir gekauft, als ich den Job bekommen hab.«

      »Ist das der Einzige, den du hast?«

      »Sie reinigt ihn jede Nacht.«

      Diese Diskussion führt zu nichts. »Lass dich unserem Barkeeper vorstellen«, sagt Stanley. »Er ist Schauspieler.«

      Die Augen des Manns hinter dem Tresen verengen