Flucht. Benjamin Withmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Withmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945133941
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      Jim studiert eine Weile die Karte, seine Finger fahren vom Nordtor zu den nächsten Häusern. Dann gehen sie auf Wanderschaft. »Hast du eine Waffe dabei?«

      »Im Handschuhfach ist eine.«

      Jim öffnet es und holt einen Colt M1911 heraus. Die Dienstwaffe steckt in einem ziemlich verkratzten Gürtelholster, US ist in das Leder geprägt. Er pfeift durch die Zähne.

      »Kannst du benutzen«, sagt Bellingham. »Hat keinen sentimentalen Wert.«

      Jim öffnet das Holster und zieht die Pistole heraus. Der Schlaghahn ist angelegt, die Waffe gesichert. Er schaut nicht nach, ob eine Patrone im Lauf ist, er weiß es. Er öffnet seinen Gürtel und fädelt das Holster ein, dann nimmt er die Magazintasche aus dem Handschuhfach, holt die beiden 45er-Magazine heraus und steckt sie in seine Jackentasche. »Ich weiß einen Ort, wo Jugg noch nicht nachgeschaut hat«, sagt er.

      »Und wo?«

      »Bei Pearl Greene.«

      »Woher weißt du von Pearl Greene?«

      Jim faltet den Stadtplan zusammen. »Der Alte hat mir davon erzählt.«

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      Man konnte den Alten nicht davon abbringen, einem Sachen zu erzählen, wenn man gemeinsam am Arbeiten war. Und weil es eine Hühnerfarm war, gab es dort immer Arbeit. Hühnerscheiße schaufeln, Heu als Streu verteilen, Eier aufsammeln. Den ganzen Tag lang. Jeden Tag. Lebensweisheiten weitergeben nannte der Alte das. Wer in der Stadt ein Säufer war, wer seine Frau betrog, wer bei Pearl Greene gewesen war.

      Der Alte hasste die Stadt. Hasste sie, weil er mitbekommen hatte, was aus ihr geworden war. Von einer Stadt mit Gefängnis zu einer Gefängnisstadt. Wenn man in Denver war, brauchte man nicht einmal den Namen der Stadt zu sagen. Nur Old Lonesome, und sie wussten Bescheid. Der Alte hasste sie alle und verbrachte jeden Tag damit, Jim zu erzählen, warum. Was ihn selbst anging, so lernte Jim, die Hühner zu hassen.

      Abwechslung gab es nur, wenn ein Wagen vom Gefängnis vorfuhr. Dann ließ der Alte liegen, was immer er tat, und verdrehte die Augen.

       3

       – Die Geächtete –

      Dayton Horn war irgendwann am Nachmittag auf dem Sofa eingeschlafen. Das frühe Aufstehen hatte sie sich angewöhnt, bevor Ethan starb. Die zwei oder drei Stunden vor Sonnenaufgang waren die einzige Zeit, zu der er sie nicht brauchte, sie wurden zu ihrer liebsten Tageszeit. Am Küchentisch sitzend trank sie ihren Tee, hörte zu, wie die Morgenvögel erwachten, und beobachtete durch das Fliegengitter der Tür, wie der Nebel über die Wiese kroch.

      Inzwischen ist es zur Routine geworden. Aufstehen vor dem Morgengrauen und draußen sein bei Sonnenaufgang. Sie hat nicht viel von dem Vieh behalten. Nur ein paar Hühner und eine Milchkuh. Das Pferd war weder die Zeit noch das Geld wert, also hat sie es verkauft. Um sich um alles zu kümmern, braucht sie nicht den ganzen Tag, aber sie mag es, alles schon am Morgen erledigt zu haben. So kann sie am Nachmittag lesen. Sie hat alles, was sie braucht, auch ohne sich um jemand anderes kümmern zu müssen als sich selbst. Und sie hat nicht vor, das jemals wieder zu ändern.

      An diesem Nachmittag ist sie mit ihrem Buch im Schoß eingeschlafen. »The Brave Cowboy« von Edward Abbey. Es ist die Erkältung, die Dayton zu schaffen macht. Sie hat einen dicken Kopf und die Wörter auf der Buchseite verschwimmen, und dann sind ihr einfach die Augen zugefallen. Sie hätte in die Stadt fahren und sich etwas gegen die Erkältung im Drugstore kaufen sollen, aber es ist eine lange Fahrt. Stattdessen hat sie sich etwas von Ethans Bourbon auf dem Ofen warm gemacht, mit Honig und Zitronensaft, und ihn beim Lesen getrunken.

      So ist sie eingeschlafen. Eingemummt von der trägen Wirkung des Bourbons, der Erkältung und dem wohlig wattigen Gefühl, das sich um sie legt.

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      Als es bereits dämmert, erwacht sie, die verschneite Wiese vor dem Fenster schimmert in sanften Blau- und Weißtönen. Dayton ist heiß, sie schwitzt. Sie hat ihre Stallkleidung ausgezogen, ist aber in ihrer langen Unterwäsche eingeschlafen. Sie bewegt ihre Unterarme gegen den dumpfen Schmerz in ihren Ellbogen. Ihr kommt es vor, als ob sie nicht von alleine aufgewacht ist. Etwas hat sie geweckt. Sie weiß nur nicht, was.

      Sie nimmt das Buch von ihrer Brust, legt es neben dem Sofa auf den Boden, dann steht sie auf und findet die Kerosinlampe auf dem Beistelltisch. Sie zieht den Glaszylinder ab und zündet den Docht an. Das unheimliche Zwielicht weicht dem Flackern der Lampe, das Wohnzimmer erwacht zum Leben. Alles wirkt verzerrt, unscharf.

      War es ein Traum?

      Was für ein Traum?

      Sie kann sich nicht erinnern.

      Sie steckt den Glaszylinder auf die Lampe und justiert den Docht, bis das Zimmer aufhört zu schwanken und das gelbe Licht klare Konturen zeichnet. Am anderen Ende des Raums, in der Ecke neben dem Schreibtisch, steht ihr kleiner Weihnachtsbaum. Sie hat ihn selbst geschlagen und dann im Wald Vogelnester in einen Rupfensack gesammelt. Als er voll war, hat sie ihn nach Hause gebracht und in jedes Nest Wachs getröpfelt, für je eine kleine Kerze, dann die Nester mit Wäscheklammern als Baumbeleuchtung befestigt. Ein Eimer Brunnenwasser steht daneben, aber sie hat es erst ein einziges Mal gewagt, die Kerzen anzuzünden. Es schien nur wichtig zu sein, einen Baum zu haben. Weihnachten gehört zu den Dingen, bei denen sie sich nicht sicher ist, ob sie aus ihrem Leben gestrichen werden dürfen.

      Ein einzelnes Geschenk liegt unter dem Baum. Es ist eine Taschenbuchausgabe von John Tolands »The Dillinger Days«, die sie gekauft hat, als sie das letzte Mal in der Stadt war. Sie hat es für Mopar besorgt, in der Hoffnung, dass er es lustig findet.

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      Es ist erst ein paar Wochen her, dass sie Mopar das letzte Mal besucht hat. Er war bleicher als sonst, seine Augen erinnerten an das, was man aus Strafkolonien kennt. Der Besuchsraum war nackter Zement, wurde von Wand zu Wand von einem langen Resopaltisch geteilt. Sie setzte sich auf ihrer Seite der Plexiglaswand auf einen Stuhl.

      Er rauchte hastig, aschte nervös in die Blechdose auf dem Tisch. Seine Augen flackerten sie an, flackerten wieder weg. Er war nur noch Haut und Knochen. Spindeldürr, dass es wehtat, ihn anzuschauen. »Es ist die verdammte Dunkelzelle«, sagte er, seine Stimme durch das Plexiglas gedämpft. »Ich bin da meine ganze Knastzeit drin gewesen.«

      »Du siehst gut aus«, sagte sie. »Nur ein wenig müde.«

      »Klar.« Er wollte sie nicht anschauen, aber sie konnte sehen, dass er auf sie eingestellt war wie ein Drehknopf am Radio. Es war, wie in einer Bar zu sitzen, wo am anderen Ende des Tresens ein Kerl sitzt, der dich anstarrt, ohne dass man ihn dabei erwischen kann. Und dir ist klar, dass er dir auf den Parkplatz folgt, wenn du gehst. »Klar«, sagte er wieder.

      »Klar?« Sie sagte es ein wenig mokant, als wäre es ein Spiel, das sie spielten. Aber es war keins.

      Auf seinem Gesicht zeigte sich der Hauch eines Grinsens, aber es verebbte sogleich wieder. »Klar, bin ich müde.«

      »Ich hab Tante Patsy gesehen. Deine Mama.«

      »Wo denn?«

      »Perkins Drugstore. Heute.«

      »Was hatte sie an?«

      »Das blaue Kleid. Das mit den Streifen. Sie hat Zeitschriften gekauft.«

      Er streckte seine Zigarettenhand nach ihr aus, als ob er die Scheibe berühren wollte. Aber er tat es nicht. Die Geste ließ sie erstarren. Er konnte sie nicht berühren, aber dass er sich in ihre Richtung streckte, das ließ sie erstarren. Es war etwas, was sie für gewöhnlich beide nicht taten.

      »Warum machst du das?«, fragte er.

      Ihr Handrücken prickelte, unter der Haut lagen