„Ja? Wieso?“
Riley zuckte mit den Schultern. „Du hast selbst gesagt, dass der Mörder schnell reagiert hat und Joan Cornell komplett aus heiterem Himmel übermannt hat. Es ist wahrscheinlich genau so passiert, wie du gesagt hast. Er griff über den Tresen, nahm sie am Schopf und knallten ihren Kopf gegen die Platte.“
Sie folgte Chief Shores Wegbeschreibung und bog an einer Ampel ab. „Dann ging er hinter den Tresen“, fuhr sie fort, „und schnitt ihr die Kehle durch, als sie bewusstlos war. Und den Fotos vom Tatort in Petersboro nach zu urteilen, hat er Justin Selves auf die ziemlich gleiche Art und Weise umgebracht, überraschend und effizient. Wirkt das wirklich wie ein schiefgelaufener Einbruch auf dich?“
„Nein“, grummelte Jenn.
“Auf mich auch nicht”, sagte Riley. „Eigentlich wirkt es ziemlich kaltblütig, sogar vorsätzlich.“
Während Riley durch die wohlhabende Nachbarschaft fuhr, stellte sich ein Schweigen zwischen ihnen ein. Rileys Besorgnis wuchs.
Endlich sagte sie: „Jenn, ich habe dich vorhin gefragt und ich muss es dich nun noch mal fragen. Stimmt irgendetwas nicht, worüber ich Bescheid wissen sollte?“
„Was sollte nicht stimmen?“, sagte Jenn.
Riley verzog die Miene, als sie dieselbe ausweichende Antwort wie zuvor erhielt.
Ich sollte einfach direkt zum Punkt kommen, dachte sie.
„Hat dich Tante Cora kontaktiert?“, fragte sie.
Es war still, als Jenn sich zu Riley drehte und sie anstarrte.
„Was für eine Frage ist das denn?“, fragte Jenn.
Riley sagte: „Eine, die leicht zu beantworten ist, so eine Frage ist das. Ja oder nein. Entweder hast du von ihr gehört oder du hast es nicht.“
Sie spürte, dass Jenn kurz davor war zu protestieren und fügte hinzu: „Und sag mir nicht, dass es mich nichts angeht. Du und ich, wir wissen Dinge über einander, von denen wir vorziehen würden, dass sie sonst niemand weiß. Wir müssen beide über alles offen und ehrlich sprechen. Und du bist meine Partnerin und irgendetwas scheint dich zu bedrücken. Ich mache mir Sorgen, dass es deine Arbeit beeinflussen könnte. Somit geht es mich etwas an.“
Jenn starrte einen Moment lang zur Straße hinaus.
„Nein“, sagte sie endlich.
„Du meinst, nein, sie hat dich nicht kontaktiert?“, sagte Riley.
„Genau so ist es“, sagte Jenn.
„Und du würdest es mir sagen, wenn sie es hätte?“
Jenn schnaubte leicht entrüstet.
„Natürlich würde ich das“, sagte sie. „Du weißt, dass ich es tun würde. Wie kannst du was anderes denken?“
„Ok“, sagte Riley.
Sie schwiegen wieder und Riley fuhr weiter. Sie hatte das Gefühl, dass Jenn ganz aufrichtig geklungen hatte und sogar ein bisschen verletzt davon war, dass Riley sie anzweifeln konnte. Riley wollte ihr vertrauen. Doch trotz allem, was Jenn in ihrem jungen Leben erreicht hatte, war es schwer die Tatsache zu ignorieren, dass sie einst Schülerin einer Meisterkriminellen war.
Aber vielleicht reagiere ich zu übertrieben.
Erneut rief sie sich all das ins Gedächtnis, was gestern zuhause vorgefallen war. Nach Aprils Nachlässigkeit mit der Pistole, war Riley einfach nicht in einer sehr vertrauensvollen Stimmung. Vielleicht ließ sie gerade zu, dass ihre eigene schlechte Laune sie vereinnahmte. Sie sagte sich: Werde jetzt bloß nicht paranoid.
Trotzdem dachte sie, dass sie vielleicht darauf hätte bestehen müssen, Bill mitzunehmen, als Meredith sie angerufen hatte. Sie war sich sicher, dass Bill sehr viel schlimmere Krisen erlebt hatte, als die, die er gerade durchmachte. Bestimmt hätte er auch diese hier hinter sich lassen können, wenn Riley darauf bestanden hätte. Er war ihr ältester und bester Freund. Mit ihm an ihrer Seite fühlte Riley sich immer sicherer und stabiler.
Doch so wie die Dinge standen, musste sie einfach das Beste aus dem machen, was sie hatte.
Bald darauf kamen sie an der Adresse an, die man ihnen gegeben hatte. Riley parkte das Auto vor einem alten und eleganten Wohnhaus aus rotem Backstein. Sie stiegen aus dem Auto, liefen zum Eingang und klingelten bei der entsprechenden Wohnungsnummer. Als eine Frauenstimme sich über die Gegensprechanlage meldete, sagte Riley: „Ms. Tovar, ich bin Agentin Riley Paige vom FBI und hier mit meiner Partnerin, Jenn Roston. Wir würden gerne reinkommen und mit Ihnen sprechen, wenn sie nichts dagegen haben.“
Die Stimme stammelte: „FBI? Ich –– ich hatte nicht erwartet...“
Nach einer Pause drückte die Frau den Buzzer und ließ Riley und Jenn rein. Riley und Jenn stiegen die Treppen hoch in den zweiten Stock und klopften an die Wohnungstür. Die Tür ging auf und brachte eine Frau Mitte Zwanzig zum Vorschein, die vor ihnen in einem Morgenmantel und Hausschuhen stand. Von Lori Tovars ausgemergeltem Gesicht konnte Riley nicht ablesen, ob sie bis vor kurzem geschlafen oder geweint hatte. Die Frau warf nicht mal einen richtigen Blick auf ihre Ausweise, dann bat sie Riley und Jenn einzutreten und sich zu setzen.
Als sie zu einer Sitzgruppe aus Sofas und Sesseln hinüberschritten, schaute Riley sich in der geräumigen Wohnung um. Im Gegensatz zum ehrwürdigen äußeren Erscheinungsbild des Hauses, was das Interieur der Wohnung schnittig und modern und es war offensichtlich, dass die Wohnung vor einigen Jahren saniert worden war.
Ebenso kam Riley die Wohnung merkwürdig leer und streng vor. Das Mobiliar sah teuer und geschmackvoll einfach aus, doch es gab nicht viel davon, und auch gab es nur wenige Bilder oder Dekorationen. Alles schien so...
Vorläufig, dachte Riley.
Es fühlte sich beinahe so an, als wären die Menschen, die hier lebten, nie wirklich angekommen.
Als Lori Tovar sich gegenüber von Riley und Jenn setzte, sagte sie: „Die Polizei hat mir so viele Fragen gestellt. Ich habe ihnen alles gesagt, was ich wusste. Ich kann mir nicht vorstellen...was Sie noch von mir wissen wollen könnten.“
„Lassen sie uns ganz am Anfang beginnen“, sagte Riley. „Wie haben Sie herausgefunden, was ihrer Mutter zugestoßen ist?“
Lori holte abrupt Luft.
Sie sagte: „Es war gestern, am späten Nachmittag. Ich bin einfach vorbeigekommen, um nach ihr zu schauen.“
„Haben Sie sie oft besucht?“, fragte Jenn.
Lori seufzte und sagte: „So oft es ging. Ich –– Ich war so ziemlich die Einzige, die sie noch hatte. Dad hat sie vor ein paar Jahren verlassen und meine Brüder und Schwester leben alle zu weit weg. Gestern bin ich früh aus der Arbeit rausgekommen –– ich bin eine Krankenschwester im South Hill Krankenhaus hier in Springett –– also beschloss ich vorbeizufahren und zu sehen, wie es ihr geht. In letzter Zeit war sie ziemlich traurig.“
Lori starrte einen Moment lang ins Leere und fuhr dann fort: „Als ich dort angekommen war, habe ich die Haustür unverschlossen vorgefunden, was mich besorgte. Dann ging ich rein.“
Sie verstummte. Riley lehnte sich ein wenig zu ihr vor und sagte mit sanfter Stimme: „Haben Sie sie sofort entdeckt? Sobald Sie ins Haus gekommen sind, meine ich?“
„Nein“, sagte Lori. „Ich habe nach ihr gerufen, als ich reinkam, aber sie antwortete mir nicht. Ich bin hochgegangen, um zu schauen, ob sie ein Nickerchen machte, aber sie war nicht in ihrem Schlafzimmer. Ich habe gedacht –– gehofft –– dass sie mit ihren Freunden ausgegangen war. Ich bin wieder runtergekommen und...“
Lori