Ich drehe meinen Kopf, bis ich ihr in die Augen sehen kann, und erwidere: „Vielleicht wäre es klüger gewesen, aber trotzdem falsch. Ich würde durchdrehen ohne dich.“
„Ich wäre ja trotzdem da.“
„Nein, wärst du nicht.“
Sie mustert mich nachdenklich. „Mein Schatz, du hast gesehen, wie es auch mich umgehauen hat. Ich … ich liebe dich und jede Sekunde, die du nicht in meinem Blickfeld bist, fühlt sich leer und trostlos an. Ich kann mir also vorstellen, wie du dich fühlst. Ein wenig jedenfalls. Aber die meisten da drin können das nicht. Nicht einmal Michael oder Nilsson werden das können.“
„Ich weiß“, sage ich leise. „Aber auch du kennst es, dich verstellen und verstecken zu müssen ...“
„Oh ja.“
„Ich kenne das erst seit vier Jahren, seitdem ich weiß, dass ich eine Kriegerin bin. Und es macht mich wahnsinnig. Ich bin es nicht gewohnt, nicht einfach zu sagen, was ich denke und fühle. Es macht mich wahnsinnig, wirklich wahnsinnig. Ich will das einfach nicht mehr. Wenigstens nicht in Bezug auf uns. Ich kann das auch gar nicht, selbst wenn ich wollte. Ich würde mich mit jedem Blick, jeder Geste verraten. Mein Körper würde mir gar nicht gehorchen.“
„Du bist heute ja ganz schön melodramatisch.“
„Hey, mich gibt es nur als Komplettpaket.“
„Zum Glück.“ Sie küsst mich, sanft und lange. Ich bin mir sicher, dass wir beobachtet werden, aber es ist mir egal. Jetzt erst recht.
Wir werden von meiner Mutter unterbrochen. „Wollt ihr nicht reinkommen? Wir wollen auf James trinken.“
Ich nicke. Wir gehen hinter ihr her. Nicholas gibt uns Gläser mit Champagner. Ich werfe einen Blick in die Runde. Margret, Kevin und Nadine wenden sich ab.
Mein Vater hebt das Glas. „Ich trinke auf James Flame, den besten James, den es je gab!“
Woher kennt er den Spruch? Meinen Spruch?
„Auf den besten James!“ erwidere ich und halte mein Glas auch hoch. Die anderen folgen meinem Beispiel, einige nur zögerlich, aber schließlich sind alle Gläser oben.
Die nächsten Stunden gehen quälend langsam vorüber. Vor allem die Delfors üben sich darin, mir aus dem Weg zu gehen. Meine Mutter hingegen ist demonstrativ oft bei uns, redet mit Katharina, berührt uns beide gleichzeitig. Auch Eleonor setzt sich zwischendurch zu uns und wir unterhalten uns über neutrale Themen, die nichts mit Krieg oder Tod zu tun haben.
Viel später stehen wir an der Bar und mixen uns Cocktails, als Ben sich zu uns gesellt.
„Hi, mein Lieblingspolizist. Möchtest du einen Drink?“
„Ja, meine Lieblingskriegerin. Ich nehme einen hundsgewöhnlichen Caipi.“
Lächelnd greife ich nach dem Cachaça und einem Glas.
„Die Luft ist heute zum Schneiden hier“, bemerkt Ben.
„Ach, wie kommst du darauf?“
„Ist so eine Vorahnung.“
„Vorahnung? Also wird die Luft zum Schneiden werden sein?“ Katharina grinst den Lieutenant an, als der beleidigt dreinschaut. „Und, was denkst du?“
„Über euch?“ Er zuckt die Achseln. „Ganz ehrlich, viel zu viel Aufstand. Klar, irgendwo verständlich. Und nicht alle wissen, wie Fiona gelitten hat.“
„Du weißt es?“ Katharina zieht beide Augenbrauen hoch.
„Ich habe den ein oder anderen Weinkrampf abgefangen deswegen, ja.“
„Oh.“ Katharinas Blick verschleiert sich. „Das wusste ich nicht.“
„Es wundert mich nicht, dass Fiona andere Dinge für wichtiger hielt, dir zu erzählen.“
„Hey, Leute“, mische ich mich ein. „Ist gut jetzt. Es ist vorbei. Katharina hat auch gelitten, das ist ausgleichende Gerechtigkeit.“
„Oh.“ Das wird heute noch ihr Lieblingsspruch. Und der Caipi ist fertig. Ich reiche ihn Ben.
„Hört zu, irgendwie überstehen wir alle diesen Tag und diesen Abend. Und danach sehen wir uns wahrscheinlich nie wieder, die Delfors und ich.“
„Heißen sie so? Nicht Flame?“
„Hallo, du Genie? Nadine heißt mit Mädchennamen natürlich Flame, aber als sie Edgar geheiratet hat, nahm sie seinen Namen an.“
„Ja. Klingt logisch.“
Ich betrachte die Delfors, die wieder mal auf einem Haufen hocken. Wahrscheinlich bin ich ihr Dauerthema. Unwillkürlich fällt mir das Wochenende in Highfoot ein und die herzliche Atmosphäre damals. Die Erinnerung geht wie ein Stich durch mein Herz.
„Fiona?“
Ich sehe Katharina an. „Was?“
„Du weinst. Merkst du das gar nicht?“
Ich fasse an mein Gesicht und meine Hand wird nass. Nein, das habe ich gar nicht gemerkt. Ob ich mir Sorgen machen muss? Die Blackouts, jetzt das, das ist schon seltsam.
„Ich … ich habe mich nur erinnert.“
„Woran?“
Ich deute auf Nadine. „Als wir damals zu ihrem Geburtstag da waren, das war alles so herzlich gewesen. Ich fühlte mich richtig zu Hause. Es … es … Ach Scheiße, ist alles einfach nur Scheiße!“
Katharina starrt mich entgeistert an. Aber nicht nur sie. Eigentlich alle. Ich würde mich auch entgeistert anstarren, wenn ich könnte. So starre ich entgeistert die Stelle an, wo das Glas zerschellt ist, das ich soeben noch in der Hand gehalten hatte. Ich kann mich daran erinnern, dass mein Arm ausgeholt und dann das Glas gegen die Wand geschleudert hat, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich ihm diesen Befehl gegeben hätte.
„Was war das denn?“, erkundigt sich Katharina.
„Mir war grad danach!“ Ich starre meine Mutter an, die zu uns kommt und vermutlich dasselbe fragen will. „Du brauchst gar nicht erst zu fragen! Mir war danach und fertig!“
„Ist schon gut, Kind. Du brauchst deswegen nicht gleich ausfallend zu werden. Jemand fegt das zusammen und alles ist wieder gut.“
„Nichts ist wieder gut!“, erwidere ich, viel lauter als ich eigentlich wollte. „Verstehst du? Nichts, aber auch absolut gar nichts ist gut! Wie könnte denn alles gut sein? Glaubst du, ich merke das nicht, wie fast alle mich anstarren? Was fast alle denken? Fiona, die Schlampe! Ich bin doch nicht völlig bescheuert, verdammt noch mal! Und ja, wenn ihr Schlampe so definiert, dann bin ich eben eine! Ist mir doch egal! Wahrscheinlich war ich nie etwas anderes!“
Ich beuge mich keuchend über die Theke und presse mein Gesicht gegen das harte Holz. Vielleicht sollte ich einfach mit dem Kopf dagegen schlagen, solange bis entweder mein Kopf oder die Theke zertrümmert ist.
Ich spüre zwei Arme, die sich um mich legen und richte mich auf. Katharina. Und ich sehe Michael, Nilsson und John herannahen. Die anderen sind immer noch nur entgeistert.
„Lass mich los!“, will ich schreien, doch statt der Wörter kommt nur ein wilder Schrei aus meiner Kehle, und dann lässt mich der Schmerz förmlich zusammenklappen. Am Rande bekomme ich mit, wie Katharina mich zu Boden gleiten lässt, ohne mich loszulassen, dann verschwindet alles in einem dichten, blutroten Nebel.
Rechte Hand. Ich bewege die Finger.
Déjà-vu.
Auch ohne mich aufzurichten, erkenne ich, dass ich in meinem alten Bett in meinem alten Zimmer bei meinen Eltern liege. Allein. Nackt.
Déjà-vu eben.
Ich setze mich auf und sehe mich um. Es dürfte wieder ein Morgen sein. Hoffentlich