Diesseits der Grenze. Tiny Stricker schreibt weiter
Eben noch on the road, jetzt Referendar am Gymnasium. Gerade noch Chittagong, nun Bayreuth. »Der Beginn der Referendarzeit war wie ein seltsames Déjà-vu, wie das Einrücken bei der Bundeswehr oder etwas ähnlich Schreckliches (schon nach drei Tagen erhielten wir einen Erste-Hilfe-Kurs, als ob wir ihn dringend nötig hätten). Es war dieses Gefühl, wieder in die Schule zurückzukehren, der man vor nicht allzu langer Zeit entronnen war, jetzt aber auf der Gegenseite, als ihr Apologet.« So beginnt Grenzland, der jüngste Band der Stricker-Werkausgabe. Anders als Trip Generation oder Unterwegs nach Essaouira spielt er ausschließlich in Bayern, und zwar in den 1970er-Jahren. Zu einer Zeit also, in der der »Eiserne Vorhang« noch nicht aufgegangen und Bayern – viel deutlicher als heute – Grenzland war. Nicht nur geografisch.
Die Schatten des Dritten Reichs verdüstern noch immer das Gerede und Gehabe der Leute, nicht nur in der Schule. Schön könnte es sein beim Tagträumen im Hofgarten, ohne quälende Lehrproben und ohne fixe Vorstellungen davon, wie – nach Ansicht der Ausbilder – Schule abzulaufen hat. Doch das Paradies ist weit weg. Der Kalte Krieg ist spürbar, besonders im grenznahen Hof mit seinen merkwürdigen Bars und dem tief eingeschnittenen Tal der Saale, »die wie der Lethefluss nach ›Drüben‹ führte«. Tristesse überall: »Es regnete Bindfäden. Das hatte die Monotonie von Gebetsschnüren. Die äußere Welt schien dahinter zu entschwinden. Einmal, wie nach langer Zeit, blickte ich aus dem Schulfenster und sah, wie ein Vogel sich auf einen feinen, geschmeidigen Zweig setzte, dass die Tropfen in alle Richtungen spritzten, und sich dann von dem zitternden Zweig emporschwang und vom Wind getrieben herrlich davonflog.«
Gegenwelten? Ja, die allerdings etwas konturlos bleibende Freundin, ein Urlaub im Süden, Glücksmomente im Englischen Garten, die geplante Tunis-Reise. Sogar Wagners Venusberg-Musik oder nächtliche Eskapaden in der Bayreuther Eremitage. »Die Zeit ausschalten und in die reine Anschauung versinken, durch Seitenblicke die gewohnten Bahnen verlassen« – in der Referendariatszeit gelingt das nur sehr, sehr selten. Erfülltes Leben sieht anders aus.
Tiny Stricker: Grenzland (= Werkausgabe Band 8). Murnau 2018: Verlag p.machinery Michael Haitel. 84 S.
Rückblicke. Alternative Literatur – was war das denn?
Spätestens seit Mitte der 1960er-Jahre wurde es unruhig in der zuvor recht konformen, allmählich richtig wohlhabenden und insgesamt ein bisschen langweiligen bundesrepublikanischen Gesellschaft. Politische Turbulenzen, Demos, Happenings und ziviler Ungehorsam, Ausprobieren neuer Lebensformen in Kommunen und Wohngemeinschaften, bizarre Modekapriolen, Beat-, Rock- und Popmusik – und überall diese Langhaarigen, die schon wegen ihres Aussehens jeden braven Bürger provozieren mussten. Plötzlich gab es eine »alternative« Presse – und eine »alternative« Literatur. Was war das eigentlich?
Ein halbes Jahrhundert später versuchen achtundzwanzig Akteure von damals, sich dieser Frage zu stellen, indem sie sich – subjektiv und möglichst konkret – an jene wilden Jahre erinnern und ihre sehr unterschiedlichen Lebenswege reflektieren. Einige von ihnen wird man nicht mehr kennen, andere spielen seit den 1970er-Jahren im literarischen Leben mit: Frank Göhre etwa, Ralf Thenior, Jürgen Theobaldy, Manfred Bosch, Peter Salomon oder Barbara Maria Kloos, übrigens die einzige Frau unter den Beiträgern. Sie hat einige Studienjahre in München verbracht.
Andere sind enger mit Bayern verbunden. »Ich entdeckte, welches klangliche und sprachliche Potential im Dialekt steckt«, schreibt der 1944 geborene Fitzgerald Kusz, der seinen Weg zum 1975 entstandenen und vierunddreißig Jahre lang am Nürnberger Theater gespielten Erfolgsstück Schweig, Bub! skizziert. »Dabei kam mir zugute, was ich vom Pop gelernt hatte: das Zitieren von Sprache in allen Erscheinungsformen. Alltag wird so, in einen anderen Zusammenhang gestellt, zur Kunst.« Der aus Niederbayern stammende Manfred Ach, dem in München die »verwöhnten Burschis und Mädis aus den Villengegenden« schrecklich auf die Nerven gingen, studierte meistens im Wirtshaus Atzinger, »wo die ROTZEG (Rote Zelle Germanistik) mit den Forstwissenschaftlern um die Wette soff«. Mit Gedichtbänden wie Beste Empfehlungen oder Percussion versuchte er um 1970, die Revolte in Sprache umzusetzen und die Trennung von Poesie und Politik aufzuheben. Benno Käsmayr berichtet, wie es zur Gründung der Szene-Zeitschrift UND und des bis heute wichtigen MaroVerlags kam. Dort erschien auch das erste Buch seines Jugendfreundes Tiny Stricker – Trip Generation wurde ein Riesenerfolg, weit über die Alternativszene hinaus. Unruhige Vita 1967 ff. betitelt Stricker seinen eigenen Beitrag, in dem er den Entstehungskontext des Romans erläutert und in dem es programmatisch heißt: »Die Welt veränderte sich rasant und ebenso die Bezugsgrößen.« Seit 1969 seien immer mehr seiner Texte in Zeitschriften wie den horen oder dem pult, im Metzger oder in Spontan publiziert worden, berichtet der 1950 in Fürth geborene Gerd Scherm, der – wie viele andere Alternativautoren – herausstellt, dass das Ulcus Molle Info, das Josef Wintjes in Bottrop betrieb, das unverzichtbare »Zentrum des alternativen Literatur-Netzwerks« gewesen ist.
Wer sich – ob noch oder wieder – für die wilden Jahre der alternativen Literatur in Westdeutschland interessiert, muss diese Anthologie kennen. Die Herausgeber haben bereits einen zweiten Band angekündigt, und man darf gespannt sein, wer sich daran beteiligen wird. Der für die damalige Szene wichtige Ingolstädter Autor Carl-Ludwig Reichert jedenfalls sollte nicht fehlen.
Peter Engel / Günther Emig (Hrsg.): Die untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiographie »alternativer« Autoren aus den 1970ern und danach. Niederstetten 2020: Günther Emigs Literatur-Betrieb. 485 S.
Ein aufgehörter Schriftsteller? Sechs Essays von Gerhard Köpf
Als Kurt Tucholsky sich ins schwedische Exil gerettet und sein Publikum verloren hatte, bezeichnete er sich als einen »aufgehörten Schriftsteller«. Muss man den 1948 in Pfronten im Allgäu geborenen Gerhard Köpf, einen der besten deutschen Erzähler seiner Generation, trotz eines gerade erschienenen Essaybands jetzt auch so nennen? Ein »aufgehörter Germanist« ist Köpf schon länger, und heute verkündet der in München lebende Autor der Romane Innerfern (1983), Die Strecke (1985), Die Erbengemeinschaft (1987) und Eulensehen (1989) allen, die es wissen möchten, hinfort nicht mehr literarisch schreiben zu wollen. Wer's glaubt …
Gert Ueding hat nun für seine Buchreihe Promenade sechs nicht mehr ganz frische »Essays gegen das Vergessen« zusammengestellt. Dass deren Themen subjektiv-beliebig erscheinen könnten, macht nichts: Was Köpf sich vornimmt, wird sogleich interessant. Zwar bevorzugt nicht jeder Leser Essays, die eine gewisse literarische Bildung voraussetzen, doch auch wenn man nicht weiß, dass der Buchtitel auf die Gedichtsammlung Die Vorzüge der Windhühner von Günter Grass anspielt – die Lektüre lohnt sich allein ihres zutiefst humanen Tons wegen, von der stilistischen Extraklasse ganz abgesehen. Gerhard Köpf ist wieder da – »beinahe verlorengegangen«, wie der Herausgeber meint, ist uns der Autor von Piranesis Traum (1992) und Papas Koffer (1993) auch in den letzten Jahren nicht.
Wer oder was eigentlich soll nicht vergessen werden? Zunächst einmal der Papa und sein Koffer. Köpf, ein hinreißender Literaturliebhaber, schaufelt Ernest Hemingway und sein Werk frei von all den Legenden, die eine weltweite »Hemingway-Souvenir-Industrie« ernähren. Er erinnert an die enorme Wirkung, die sein Werk speziell in Deutschland hatte, und an dessen ebenso enormen Ansehensverlust nach 1970. »Ein solch jähes Wirkungstief, wie es derzeit noch anhält, besagt jedoch nichts über den Wert eines Autors.« Und diesen Wert führt uns der Essayist,