Ein Dichter aus Bayern also. Seit Jahrzehnten lebt er in München, in Alt-Schwabing, und dass er sich in der Landeshauptstadt bestens auskennt und sich, selten aber doch, in aktuelle Debatten wie die um die Untertunnelung des geliebten Englischen Gartens einmischt, kann man aus Fallobst erfahren. In diesem Buch sind nicht nur ältere Texte wie Curriculum vitae enthalten, sondern auch zahlreiche neue: skeptische Beobachtungen zur Geschichte und Politik, zeitkritische Sottisen, interessante etymologische Betrachtungen und bemerkenswerte Lesefrüchte – der erste Fallobst-»Korb« beginnt gleich mit Denis Diderot. Eine anregende Lektüre, für die es keinen runden Geburtstag braucht! Oder, um es mit einer Lebensweisheit aus Fallobst zu sagen: »Man tut gut daran, alles abzusagen, was angesagt ist«. Auch das ist: Literatur in Bayern.
Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch. Berlin 2019: Suhrkamp Verlag. 368 S.
Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950–2020 (st 5013). Berlin 2019: Suhrkamp Verlag. 243 S.
Welcome Gruppe 47. Unterhaltsames aus Princeton, 1966
Anfang September 1947 organisierte Hans Werner Richter das erste Treffen der später sogenannten Gruppe 47 im Haus der Künstlerin Ilse Schneider-Lengyel am Bannwaldsee bei Füssen im Allgäu. Noch vor fünfzig Jahren, als sie sich auf Einladung des Germanisten Victor Lange in Princeton traf, hielt man die dieser Gruppe zuzurechnenden Werke und ihre Autoren gerne für die deutsche Nachkriegsliteratur schlechthin. Was nicht ganz stimmte. Die Tagung in Princeton 1966 war der Anfang vom Ende dieser einflussreichen Schar, um die sich zahlreiche Geschichten und Gerüchte ranken. Inzwischen ist die Gruppe 47, ihre Werke und ihre soziologische Struktur genauso wie ihre wichtigsten Akteure, von der Wissenschaft derart gut erforscht, dass man sich von einer Neuerscheinung mit dem lakonischen Titel Princeton 66 kaum Neues versprechen mag. Und in der Tat, umwerfend neue Erkenntnisse bietet sie nicht. Merkwürdigerweise aber macht das gar nichts. Denn: Niveauvolle und süffige Unterhaltung ist garantiert, und das bis zur letzten Seite. Auch wenn allerlei Fürchterliches zur Sprache kommt.
Der nicht nur als Biograf der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger bekannte Journalist Jörg Magenau hat ein literarisches Sachbuch verfasst, das ohne Fußnoten und mit allerknappster Auswahlbibliografie auskommt und das berühmte US-Auswärtsspiel der deutschen Literatur im Stil einer Sportreportage erzählt. Nein, die Zeitgeschichte kommt überhaupt nicht zu kurz. Entscheidend für dieses Buch jedoch sind die Akteure und ihr Zusammen- und oft auch Gegeneinanderwirken. Ein paar Fotos gibt es auch. Anschaulich und lebendig schildert Magenau die Kritiker – Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki, Fritz J. Raddatz, Joachim Kaiser, Reinhard Baumgart oder den jungen Hellmuth Karasek –, die sich oft für wichtiger hielten als die Schriftsteller. Walter Jens und Walter Höllerer waren beides. Sie alle, und natürlich Poeten wie Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Peter Weiss, Reinhard Lettau, Peter Rühmkorf, Ernst Augustin, Peter Bichsel, Helga M. Novak, Gabriele Wohmann, Gerd Fuchs, der junge Friedrich Christian Delius oder der noch etwas jüngere Hans Christoph Buch sind Magenaus Protagonisten. Und einige mehr. Aus seinen lakonisch-witzigen Bemerkungen über ihre Körpersprache, ihre Trink- und Rauchgewohnheiten oder ihre kleinen Selbstgefälligkeiten bezieht das Buch seine Farben: »Fried fand seine Gedichte gut. Er fand sie sogar sehr gut.« Oder: »Höllerer war jetzt dran. Wie eine getrocknete Eule saß er auf dem elektrischen Stuhl.« Und selbstverständlich gerät der berühmt gewordene Auftritt eines »Literatur-Beatle« aus Kärnten, der seinen Kollegen »Beschreibungsimpotenz« vorwarf, ausführlich in den Blick: Peter Handke, der mehr aus Zufall und als Schüchternheit verbrämtem Geltungsdrang heraus in Princeton seine ersten Schritte zum späteren Weltstar machte. Damals war er erst dreiundzwanzig: »Buch, der mit ihm das Zimmer teilte, glaubte, als er es zum ersten Mal betrat, dort tatsächlich ein Mädchen im Bett vorzufinden«.
Jörg Magenau: Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Stuttgart 2016: Verlag Klett-Cotta. 223 S.
Literaturgeschichte in Literaturgeschichten. Hans Christoph Buch – Literat auf Traumpfaden
Die schöne Geschichte, die Jörg Magenau in seinem Buch Princeton 66 kolportiert hat, kommt im Tunnel über der Spree nicht vor: Angeblich habe der junge Hans Christoph Buch, als er das ihm bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton zugeteilte Doppelzimmer zum ersten Mal betrat, tatsächlich geglaubt, seine Gastgeber hätten an alles gedacht und ihm sogar ein Mädchen ins Bett gelegt. Es war aber kein Mädchen, sondern Peter Handke. Dreiundfünfzig Jahre ist das her.
Jetzt blickt Buch zurück auf seine Anfänge, die prägenden Jahre im »Ostwestberlin« der Sechziger- und Siebzigerjahre. »Berlin war trotz oder wegen des Mauerbaus die Hauptstadt der deutschen Literatur.« Dort lebt der in Wetzlar geborene Diplomatensohn seit 1964. »Det is allet history!« lautet der Titel seines Porträts von Wolf Biermann, das neben einem Brief an seinen Freund Peter Schneider und Notizen zu Sarah Haffner, Uwe Johnson und Klaus Schlesinger das erste Kapitel vom Tunnel über der Spree bildet. Tunnel? In den Achtziger- und Neunzigerjahren war Hans Christoph Buch wesentlich daran beteiligt, dass Schriftsteller aus Ost und West im Literarischen Colloquium am Wannsee über Menschenrechtsverletzungen und Zensur reden und sich über das literarische Schreiben vor und nach der Wende miteinander austauschen konnten – mit dem Motto der Literatentreffen, »Tunnel über der Spree«, bezog man sich auf einen Dichterkreis des 19. Jahrhunderts, dem zeitweise auch Theodor Fontane angehörte. Ein Buchtitel für Eingeweihte.
Literaturgeschichte in Literaturgeschichten – darum geht es. Man lernt Günter Grass, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Siegfried Unseld, Marcel Reich-Ranicki, Reinhard Lettau, H. C. Artmann, Uwe Kolbe, Nicolas Born, Christoph Meckel, Gert Loschütz und zahlreiche andere Literaten näher kennen, auch Buchs Doktorvater Walter Höllerer – die Dissertation mit dem Titel Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács (1972) lohnt noch immer die Lektüre. Gesehen werden sie alle durch die Brille eines Autors, der mit Urteilen nicht geizt: »Es war schwer, fast sogar unmöglich, mit Günter Grass befreundet zu sein, weil er sich mit subalternen Höflingen umgab, die allem, was er sagte, schrieb und tat, ihren Segen erteilten, während er allergisch reagierte auf Kritik und von seinen Freunden Gefolgschaft verlangte … Hinzu kommt, dass er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Kollegen ungebetene Ratschläge gab.« Immer geht es in diesen leichtfüßigen Porträts von Zeitgenossen auch um das eigene Verständnis von Literatur, und mehrfach bezieht sich Buch dabei auf seine literarischen Vorbilder, zu denen Homer ebenso gehört wie Goethe, Chamisso, Kleist, Heine oder Kafka, aber auch erstaunlich viele Russen und natürlich der hochverehrte Alejo Carpentier. Hans Christoph Buch beurteilt die Überlebenskünstler des 20. Jahrhunderts rigider als Hans Magnus Enzensberger, der ihnen im vergangenen Jahr 99 literarische Vignetten gewidmet hat. Kein gutes Haar lässt er zum Beispiel an Heinrich Mann, vor allem an dessen Roman Henri