Vom Literaten Hans Christoph Buch kann man nicht sprechen, ohne seine andere große Leidenschaft zu erwähnen, das Reisen. In die Sowjetunion und die USA, nach Kanada, Mexiko, Brasilien und China gelangte er schon als junger Mann. Haiti, wohin sein Großvater um 1900 ausgewandert war, ist ihm zum Schauplatz mehrerer Bücher geworden, auch zu dem seines bekanntesten Romans Die Hochzeit von Port-au-Prince (1984). Seine Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten der Welt, von Liberia und Ruanda über Tschetschenien und Afghanistan bis Bosnien und Kosovo, machten den Autor lesenswerter Romane wie Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod (2013) oder Stillleben mit Totenkopf (2018) ebenso bekannt wie seine Fiction. Einen Kosmopoliten hat man ihn oft genannt. Immer wieder suchte er Politik und Ästhetik zu versöhnen, und damit hat er sich nicht nur Freunde gemacht. »Die Literaturkritik wollte mich immer anders haben, als ich bin«, betont Buch in seiner Dankrede zum Schubart-Preis der Stadt Aalen. Dieser Schubart »passt in keine Schublade«, heißt es dort weiter, und das gilt offensichtlich auch für den Redner selbst. Jedenfalls ist er ein Fighter, der sich zu positionieren weiß: »Der Identitätsdiskurs ist eine Falle … Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir alle haben Patchwork-Identitäten, die es uns erlauben, über politische und soziale, religiöse und kulturelle Grenzen hinweg miteinander zu kommunizieren.«
Hans Christoph Buch ist nun auch schon fünfundsiebzig.
Hans Christoph Buch: Tunnel über der Spree. Traumpfade der Literatur. Frankfurt am Main 2019: Frankfurter Verlagsanstalt. 256 S.
Die Geburt eines Dichters. Wie der Free Jazz die Freiheit entfesselte
Das Motto seiner im Frühjahr 1966 in Manhattan spielenden Erzählung hat der fünfundsiebzigjährige Berliner Schriftsteller Friedrich Christian Delius in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften gefunden: »Und die Musik hielt keinen Augenblick still, die Musik kannte kein Nein.« Die Musik, das ist der Free Jazz des Albert Ayler, der durch Slug's Saloon in der unteren Lower East Side tobt. Dorthin hat sich der dreiundzwanzig Jahre junge Ich-Erzähler von zwei Freunden entführen lassen, und was er dort erlebt, ist nichts weniger als ein »Ritus der Initiation«. Der verträumte Jüngling aus dem Pfarrhaus im nordhessischen Korbach, der nach ersten – gar nicht mal erfolglosen – dichterischen Versuchen im Westberliner Studentenmilieu um Autonomie und Selbstbewusstsein ringt, wird durch die »vulkanische Gewalt der Musik« verzaubert. Wie noch nie zuvor spürt er die unwiderstehliche Kraft von Freiheit und Schönheit, die ihn zu einem politisch wachen Künstler werden lässt. »Improvisieren, frei und doch an versteckte Regeln gebunden, so war es oft auch beim Schreiben«. Slug's Saloon wird zum Geburtsort eines jungen Dichters namens F. C. Delius.
Den biografischen Hintergrund des Ganzen – die abenteuerliche Reise der Gruppe 47, an der auch Jungpoeten wie Hans Christoph Buch, Peter Handke oder eben Delius teilnehmen durften – hat Jörg Magenau in seinem Buch Princeton 66 beleuchtet. Doch die Gruppe 47 oder die Politik der USA in jenen Jahren, ja selbst das fulminante Konzert sind dem Erzähler von Anfang an vornehmlich Anlass zu Assoziationen. »Neben dieser Vorstellung liefen auf einer zweiten Spur im Gehirn Filme ab.« In diesen Filmen geht es um Pubertätskonflikte mit dem vom Zweiten Weltkrieg nicht unbeschädigten Vater, um die beschwiegene NS-Vergangenheit angesehener Korbacher Bürger, um frühe Küsse und Liebesschmerzen und schließlich um die Entdeckung der »Heilkraft des Schaffens und Schöpfens«. Sie macht aus dem stotternden Provinzler einen von John F. Kennedys Berliner Rede angeregten, durch die Lieder von Wolf Biermann aufgerüttelten und durch die ersten Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg politisierten Schriftsteller. Die expressive und zugleich elegante Prosa des Büchner-Preisträgers trägt. Durch den mit einem Pasolini-Diktum begründeten und dennoch abschreckend öden Buchtitel sollte sich niemand von der Lektüre abhalten lassen.
Friedrich Christian Delius: Die Zukunft der Schönheit. Erzählung. Berlin 2018: Verlag Rowohlt Berlin. 92 S.
Früchte des Zorns. Friedrich Christian Delius hat sich mächtig geärgert
Der Berliner Schriftsteller Friedrich Christian Delius, 1943 in Rom geboren und der Ewigen Stadt verbunden geblieben, muss sich lange Jahre hindurch gewaltig geärgert haben: über den Verfall der abendländischen Kultur ganz allgemein, über die Deutschen mit ihrem sonnigen Italien-Bild und ihrem bildungsbeflissenen Rom-Tourismus, über Italien mit seinem falschen, auf freiwilliger Vergangenheitsblindheit beruhenden Nationalstolz und seiner Verlotterung zu einem kaum noch demokratischen, von Korruption und Mafiabrutalität gezeichneten Land und vor allem über die opportunistische und machtgeile Politik des Heiligen Stuhls. Der kluge, sprachmächtige und angenehm leise Ironiker, der 2011 endlich und völlig zu Recht den Georg-Büchner-Preis bekommen hatte, hat eine Rom- und Papst-Erzählung geschrieben, die es in sich hat: Die linke Hand des Papstes. Die Geschichte spielt in Rom, genauer gesagt in einer evangelischen Kirche in der Via Sicilia, und sie dauert eigentlich nur ein paar Minuten. Im Grunde jedoch spielt sie im Kopf des Ich-Erzählers, eines frühpensionierten deutschen Archäologen und Rom-Kenners, der gelegentlich als Fremdenführer arbeitet und sich nicht zu schade dafür ist, angeekelt auf die durch die Sixtinische Kapelle taumelnden Touristenmassen herabzusehen. Und der Papst, der da bei den Lutherischen fremdgeht, das ist der im Februar 2014 von seinem Amt zurückgetretene Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger. Der erste Satz dieser merkwürdigen Erzählung ist eine Frage: »Die Hand, dachte ich am ersten März-Sonntag des Jahres 2011 – was ist mit der Hand?«
Die alte, ein wenig müde Hand des Unfehlbaren ruht zumeist, ist jedoch permanenter Anlass für einen Wirbel von Gedanken und Fragen: Wann zuckt sie, wann zuckt sie nicht? Zuckt sie, wenn der Papst den »regierenden italienischen Hurenbock« sieht? Oder den »Öldiktator« von der anderen Seite des Mittelmeers, der bei seinem sogenannten Staatsbesuch im Sommer 2010 die »massenhafte Käuflichkeit der einst katholischen Menschen« bloßgestellt hat? Dass Rom »aller Laster Heimatland« sei, wie schon Vittorio Graf Alfieri gedichtet hatte, ist für Delius keineswegs »Rom-Schelte«, sondern »brauchbare Arbeitshypothese« für seine literarische Demaskierungsarbeit. »Rom lebt von Übertreibung und Größenwahn, erzähle ich gern, seit dem einundzwanzigsten April Siebenfünfdrei.« In dieser rätselhaften und faszinierenden, aber eben auch total kaputten Stadt gibt es jede Menge Tabus, und Friedrich Christian Delius will sie alle brechen. Er tut das vor allem mittels ungewöhnlicher, spannender und amüsanter, gelegentlich auch umständlicher Abstecher in wenig bekannte Gefilde der Geschichte und Gegenwart der italienischen Hauptstadt, und er tut es mit großem Furor und bisweilen derart polemisch, dass einem unversehens APO-Kampfbegriffe wie »klerikalfaschistoider Verblendungszusammenhang« (oder so) in den Sinn kommen. Das Ganze läuft auf eine aberwitzige Pointe hinaus, die hier nicht verraten werden soll.
Das morbide Rom radikal entmystifizieren, die fatale Rolle des Vatikans seit den Anfängen des Papsttums gründlich entlarven, den Mussolini-Terror, der 1943 in den Nazi- und SS-Terror überging, endlich einmal nicht verschweigen: Da ist Delius in seinem Element. Nicht immer mit Schaum vor dem Mund, durchaus seine Worte wägend, mögliche Einwände bedenkend, umsichtig und eher im Gestus des Fragens. Aber dass sich, wie er seines Archäologen italienische Frau Flavia sagen lässt, Italiener stets als Opfer fühlen – »Schuldgefühl: null Komma null« –, das regt den Ich-Erzähler denn doch wahnsinnig auf. »Die Kunst des Zweifels ist nicht erwünscht, Aufklärung kein Ziel unter dem klaren oder regenschwarzen Himmel von Rom, das haben die Fremden und vor allem die Germanen gefälligst zu lernen, wenn sie sich schon als Gäste aufdrängen und einmischen.« Niemals! Und schon gar nicht ein germanischer Zweifler und Aufklärer wie Friedrich Christian Delius! Er hat Goethe und Byron und Stendhal ebenso gelesen wie Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke und Stillbach oder Die Sehnsucht von Sabine Gruber – und ein originelles, sprachlich meisterhaftes, kritisches und ziemlich schräges Buch über das Rom von heute geschrieben. Wer sich für dieses Rom interessiert, sollte zuallererst Zurück nach Rom von Dante Andrea Franzetti lesen. Und dann gleich den neuen Delius.
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand