So wird Ingwer in China schon seit mehr als 2500 Jahren intensiv als Heil- und Nahrungsmittel genutzt. Medizinisch verwendete man ihn vor allem zur Anregung der Verdauung und zur Behandlung von Seekrankheit. Beide Probleme waren in China seinerzeit besonders akut. Denn die hygienischen Verhältnisse in den Küchen waren miserabel, sodass es durch Essen immer wieder zu Infektionen, Unverträglichkeiten und Durchfall kam. Und für die Reiseübelkeit gilt, dass sie – aus hormonellen Gründen – einen Chinesen um ein Vielfaches häufiger trifft als etwa einen Europäer, man aber damals zwischen Hongkong und Tsingtao noch weitaus häufiger zur See fuhr als heute. Ein Volk von Seefahrern also, das extrem sensibel für die Seekrankheit war! Eine ziemlich ungünstige Kombination. Doch sie erklärt, warum man in China zum »Sheng-Chiang«, wie der Ingwer in der Landessprache heißt, im Laufe der Jahrhunderte eine ganz spezielle Vorliebe entwickelte.
Der Denker Kung-Futse (551–479 v.Chr.) sagte einmal: »Es gibt niemanden, der nicht isst und trinkt, aber nur wenige, die den Geschmack zu schätzen wissen.« Ein wahres Wort, das gerade in der heutigen Zeit des Fastfood wieder sehr aktuell geworden ist. Für den chinesischen Philosophen stand aber auch fest, dass ein Gewürz niemals im Essen fehlen durfte: nämlich Ingwer. Keine Mahlzeit, in die Kung-Futse nicht etwas Ingwer hineinreiben ließ. Und für längere Reisen empfahl er die Mitnahme von kandierten Ingwerstücken. Einerseits, weil sie vor Seekrankheit schützen, und andererseits, weil sie den Körper kräftigen sollten, damit er die Reisestrapazen besser überstehen konnte.
In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gilt die Ingwerwurzel als »warm«. Das bedeutet, dass sie vor allem bei Krankheiten hilft, die mit Kälte zu tun haben, wie etwa Husten, Erkältungen und Rheuma. »Wenn die frische Wurzel zusammen mit den weißen, rankenähnlichen Würzelchen von frischen Schalotten und etwas Rohrzucker oder Honig gekocht wird, ergibt das ein wirksames Mittel gegen Erkältungen, die von Frostschauern begleitet sind«, schreibt der thailändische TCM-Experte Daniel Reid.
Das Wurzelhorn
Der Name »Ingwer« stammt vom mittelhochdeutschen »Engeber« oder »Ingewer«. Diese Wörter wiederum zeigen deutlich, dass sie dem lateinischen Gattungsnamen »Zingiber« (Ingwer heißt ja botanisch »Zingiber officinale«) entlehnt sind. Doch wer glaubt, dass damit alle etymologischen Hintergründe hinreichend aufgeklärt sind, ist – bei solch einer traditionsreichen Pflanze wie dem Ingwer – auf dem Holzweg. Denn auch der lateinische Name hat einen Ursprung, nämlich im arabischen »zindschabil«, das man am besten mit »Wurzel« übersetzt. Und über die Herkunft von »zindschabil« gibt es sogar gleich zwei Theorien. Die eine besagt, dass dieser Begriff aus dem indischen Sanskrit kommt: »sringavera« = hornförmig. Das ist noch heute das im Sanskrit gebräuchliche Wort für den Ingwer. Die andere, dass er nach einem Land namens »Gingi« benannt wurde, in dem die Pflanze angeblich wild vorkam. Beweisen freilich lässt sich weder die eine noch die andere Theorie.
DIE ENTSCHLACKUNGSWURZEL DES AYURVEDA
Während China der größte Ingwer-Exporteur der Welt ist, werden in Indien insgesamt die größten Ingwer-Mengen produziert, nämlich fast 360 000 Tonnen pro Jahr. Das meiste davon geht jedoch in den einheimischen Markt. Denn in Indien hat Ingwer, genauso wie in China, nicht nur als Gewürz, sondern auch als Heilmittel eine lange Tradition.
So entwickelte sich im Land der Veden parallel zur Traditionellen Chinesischen Medizin die Ayurveda-Lehre. Einer ihrer geläufigen Sätze heißt bis heute: »There is no tincture without ginger – es gibt keine Tinktur ohne Ingwer.« Der Grund: Die meisten ayurvedischen Mittel enthalten Ingwer, da man schon in den Gründerzeiten der vermutlich über 4000 Jahre alten Gesundheitslehre glaubte, dass er die Wirkung anderer Heilpflanzen verstärken könne. Eine Hypothese, die mittlerweile wissenschaftlich gut abgesichert ist. 1981 veröffentlichte das renommierte Journal of Ethnopharmacology eine Studie, in der die positiven Effekte des Ingwers auf die Verwertung von Arzneistoffen bestätigt wurden. Demnach unterstützt er einerseits die Aufnahme der Arzneistoffe aus dem Darm; andererseits verhindert er aber auch, dass sie nach dem Verdauungsakt zu schnell zur Wirkungslosigkeit verstoffwechselt werden. Die traditionsreiche Heilwurzel sorgt also gleichzeitig dafür, dass Arzneimittel von unserem Körper aufgenommen und nicht direkt wieder von unserem übereifrigen Stoffwechsel zerlegt werden. Besser geht’s nicht.
Nichtsdestoweniger verbessert Ingwer nach dem Ayurveda nicht nur die Resorption von Arzneimitteln, er stärkt auch insgesamt die Verdauungskraft »Agni«. Dadurch verhindert er das Ansammeln schädlicher Substanzen in unserem Körper und erleichtert das Verbrennen und Ausscheiden von Giften. Man kann Ingwer daher getrost im ayurvedischen Sinne als »Entschlackungswurzel« bezeichnen.
Daneben hat Ingwer einen großen Einfluss auf die sogenannten Doshas. Das sind in der Ayurveda-Lehre feinste Steuerungseinheiten, die den Menschen nicht nur hervorbringen, sondern auch seine Funktionen kontrollieren. Es wäre allerdings falsch, sich die Doshas als äußere Kräfte vorzustellen, die den Menschen anstoßen wie ein Boot im Wasser, das sich daraufhin in Bewegung setzt. Die ayurvedischen Ureinheiten halten uns nicht nur in Bewegung, sondern sie bilden gleichsam unsere geistige und körperliche Substanz. Sie prägen unser gesamtes Dasein, neben unseren körperlichen und psychischen Aktionen also auch unsere Konstitution, unseren Charakter, unsere Leidensfähigkeit und vieles andere mehr.
Vata beinhaltet das gesamte Spektrum unserer Dynamik. Menschen mit stark ausgeprägtem Vata-Anteil sind lebhaft, begeisterungsfähig, gesprächig, spontan, flexibel und dennoch leicht zu ängstigen. Pitta bezeichnet hingegen das Hitze- und Stoffwechselprinzip, ist aber auch verantwortlich für das Kontrollbedürfnis eines Menschen – sowohl auf der körperlichen als auch auf der psychischen Ebene. Menschen mit stark ausgeprägtem Pitta-Anteil sind stark »verkopft«, neigen also dazu, alle Angelegenheiten des Lebens wohlüberlegt anzugehen, emotionale und spontane Entschlüsse sind ihnen eher unangenehm. Kapha schließlich ist das Prinzip der Form, es steht für Stabilität und Struktur. Kapha-Typen haben ein stark starkes Bedürfnis nach Frieden und Harmonie – ein Bedürfnis, das man ihnen oftmals schon rein äußerlich ansieht, denn Kapha-Menschen haben eine weiche und sanfte Haut, sie wirken insgesamt körperlich eher rund und ausgewogen, neigen dadurch aber auch zu Übergewicht.
Im Ayurveda zählt Ingwer neben schwarzem und langem Pfeffer zu den »trikatu«, den »drei Scharfen«. Was im Hinblick die drei Doshas bedeutet: Diese Gewürze wirken auf Vata und Kapha, auf Pitta sind sie jedoch ohne Einfluss. Ingwer hilft daher bei der Beseitigung stressbedingter Erregungen ebenso wie bei Antriebslosigkeit und Müdigkeit, er lässt uns einen klaren Kopf, den weder Hektik noch Passivität aus der Ruhe bringen. Er ist für den hageren und konfliktträchtigen Macher ebenso hilfreich wie für den rundlichharmoniesüchtigen Phlegmatiker. Nur wenige Heilmittel können solche unterschiedliche Indikationen abdecken.
STÄRKUNG FÜRS WOCHENBETT
Über China und Indien gelangte Ingwer nach Malaysia und Indonesien, wo man seiner Anwendung als Volksmedizin einen weiteren interessanten Aspekt hinzufügte, der noch heute Gültigkeit hat. Frauen erhalten dort nämlich nach der Geburt ihres Kindes 30 Tage lang eine Ingwersuppe. »Sie soll den durch die Geburt belasteten Müttern helfen, sich warm zu halten und ihre Stoffwechselschlacken auszuschwitzen«, erklärt Prof. Kathi Kemper, Kinderärztin an der Wake Forest University in den USA.
In Arabien galt Ingwer lange Zeit als Aphrodisiakum, doch diesem Ruf konnte er – wie viele andere Heilpflanzen auch – nicht gerecht werden. Dafür wird er in Ägypten noch heute als Abwehrmittel gegen Moskitos geschätzt, und da ist wirklich etwas dran. Denn ätherische Pflanzenöle wirken generell, es ist ja geradezu ihr Sinn. So auch beim Ingwer, der seine saftigen Knollen vor den Attacken unliebsamer Schädlinge schützen muss. Es kann daher durchaus hilfreich sein, sich vor einem sommerlichen Aufenthalt im Freien einen intensiven Ingwer-Snack einzuverleiben. Am besten kombiniert mit Knoblauch, denn dessen Schwefelverbindungen wirken nicht