Vahans Geschichte
Nachdem Emmanuelle und ihre Mutter überstürzt gegangen waren, hatten wir einander eine Weile schweigend gegenübergesessen. Unsere einzige Gemeinsamkeit bestand darin, dass wir uns beide an unseren Champagnergläsern festhielten. Keiner von uns wusste, wo er anfangen sollte. „Sie fliegen also nach Istanbul“, sagte er endlich. Seine Stimme war leise und bedächtig. Ich nickte. „Ich war noch niemals dort“, sagte er. „Meine Mutter hat mir davon erzählt. Vom Bosporus, wo sie mit meinem Vater war, von Tatavla, wo die Familie meiner Tante wohnte, vom Gedeckten Basar.“ Er seufzte. „Sobald ich eingeschult wäre, sollte ich nachkommen. Gleich nach den ersten Sommerferien. Mein Vater hatte es versprochen. Aber eingeschult zu werden, war mir nicht vergönnt.“ Er seufzte tiefer.
Mit noch sanfterer Stimme fuhr er fort: „Bitte glauben Sie nicht, dass ich Sie traurig machen will oder alte Wunden aufreißen möchte. Aber Jacqueline war es sehr wichtig, dass wir einander kennenlernen.“ Er beugte sich über den Tisch, als könnten Emmanuelle und ihre Mutter noch immer hören, was wir besprachen. „Sie wissen ja, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann man sich dem nur entziehen, indem man aus dem Leben scheidet. So hat es ihr Mann gemacht. Ich aber möchte die wenigen Jahre, die mir noch bleiben, so angenehm wie möglich verbringen, also habe ich beschlossen, ihr ihren Wunsch zu erfüllen und dafür am Leben zu bleiben.“
Der Champagner trug dazu bei, dass wir über diese letzten Worte in schallendes Gelächter ausbrachen und sich die Lage entspannte. Ich hatte das seltsame Gefühl, als könnte ich diesen alten Mann mögen, und ich winkte den Kellner heran. „Wenn wir schon nicht sterben, dann trinken wir wenigstens“, sagte ich. Vahan Bey sagte: „Der schönste Satz, der je in einem türkischen Roman stand: ‚Wenn wir uns schon nicht umbringen, dann trinken wir wenigstens.‘“ Wir ließen die Gläser klingen. Der Mann gefiel mir immer besser. Das war der Augenblick, in dem ich beschloss, mir seine Lebensgeschichte anzuhören.
Als der Kellner uns das bestellte frische Brot und den Schafskäse zum Champagner brachte, waren wir schon vertrauter miteinander. „Wie gesagt, verehrtes Fräulein, gehöre ich schon längst zum alten Eisen.“ Mir fiel ein, dass mein Großvater auch immer „verehrtes Fräulein“ zu mir gesagt hatte. „Jahrgang 1910. Geboren in Ovacık. Mein Vater kam aus einer Bauernfamilie. Mein Großvater, mein Vater und meine zwei Onkel – alles Bauern. Meine Mutter heiratete er, als sie fünfzehn war. Er selbst war schon über dreißig. Meine Mutter gebar drei Mädchen hintereinander. Dann kam ich, das Nesthäkchen. Als einziger Mann sollte natürlich auch ich Bauer werden, ich war ja sozusagen auf dem Feld aufgewachsen. Manchmal träume ich noch heute nachts davon, wie ich als Fünfjähriger durch die Sonnenblumenfelder renne.“ Er kratzte sich an der Hand. „Ich habe sie zwar seit damals nie wiedergesehen oder berührt, aber den Juckreiz, den die Härchen der Sonnenblumen auslösen, habe ich nie vergessen.“
Er rückte seine Brille zurecht. Dann schaute er mir in die Augen. „Das alles habe ich, seit ich in Frankreich bin, noch niemandem erzählt. Auch Jacqueline kennt meine Geschichte nur oberflächlich. Und schon das ist ihr zu viel. Den Schmerz, den du und ich empfinden, meine Liebe, versteht niemand außer uns beiden. Ich möchte dir etwas erzählen, und du kannst mich jederzeit unterbrechen. Aber bitte hör es dir an, bevor du nach Istanbul gehst. Der Mann, an dessen Beerdigung du teilnehmen wirst, stammt auch aus unserer Heimat. Seine Familie hat gerade mit dem gleichen Schmerz zu kämpfen wie wir.“
Er verstummte und schaute mich an, als erwarte er meine Erlaubnis dafür, fortzufahren. Als ich ihn mit einem leichten Kopfnicken dazu ermunterte, holte er tief Luft, schwieg noch für einen Moment und setzte dann mit gesenkter Stimme an, als erzähle er nun von einer frischen, schmerzvollen Erinnerung. „Wie ich so eines Tages in der Hitze des Sommers durch die Sonnenblumenfelder rannte, hörte ich in der Ferne Menschen weinen und klagen. Ich war gerade erst fünf Jahre alt geworden ‚und mein Zuhause war meine ganze Welt. Ich rannte dorthin zurück. Da sah ich meine Mutter, meinen Vater, meinen Onkel und meine Geschwister, von Soldaten umstellt. ‚Mama!‘, rief ich. Meine Mutter schluchzte. Ich wollte zu ihr. ‚Ist das deiner?‘, fragte ein Soldat und packte mich am Arm. ‚Das ist mein Sohn, lassen Sie ihn los‘, sagte meine Mutter. Ich lief zu ihr und umklammerte ihre Beine. Ich brachte keinen Laut hervor. Wir mussten alle auf Ochsenkarren steigen und mein Vater fragte Kutscher und Soldaten, wohin man uns bringe. Sie wüssten es nicht, bekam er zur Antwort, und vielleicht wussten sie es wirklich nicht, oder man hatte ihnen befohlen, das zu behaupten. Mitten in der Steppe ließen sie uns absteigen. Wo genau, weiß ich bis heute nicht. ‚Ab hier geht ihr zu Fuß‘, sagten sie. Jeder hatte sein Bündel dabei. Und wir waren bei weitem nicht die Einzigen. In jeder Provinz, jedem Dorf, jeder Stadt hatten sie die Armenier zusammengetrieben. Jeden mit seinem Bündel. Mit all den Habseligkeiten, die man in so ein Bündel eben hineinbekommt.“ Er verstummte. Ließ den Kopf sinken. Nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem weißen Tuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Ich wandte den Blick ab, damit er sich auch die Augen trocken tupfen konnte.
Dann holte er erneut Luft und fuhr fort. „Es dauerte Monate. Vier, vielleicht sogar fünf. Wir fragten die, die sich dem Treck neu anschlossen, wie die Orte hießen, durch die wir kamen. Wir kamen durch Afyon und durch Konya. Dann wurden wir – später erfuhren wir, dass es außerhalb von Tarsus war – von Bewaffneten umzingelt. Sie töteten die Männer, die ihren Frauen zu Hilfe eilen wollten. Den Frauen entrissen sie ihre Bündel. ‚Was weg ist, ist weg‘, sagten sie. Im allgemeinen Chaos verloren wir meinen Vater und meinen Onkel aus den Augen. Erst später erfuhr ich, dass sie von den Wegelagerern umgebracht worden waren. Die anderen hatten es uns nicht gesagt, damit wir weitergingen.“
Er nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Wir, die wir übriggeblieben waren, setzten unseren Weg fort. Immer wieder kamen weitere Bewaffnete, vergewaltigten die Frauen und rissen den Männern die Goldzähne heraus. Ich war ein Kind, das bis dahin noch Angst vor Feldmäusen gehabt hatte. Und nun musste ich für Männer und Frauen, die aus Mund und Nase bluteten, Wasser heranschaffen. Man lernt irgendwann, keine Angst mehr zu haben.“
„Und wie sind Sie bis nach Frankreich gekommen?“, fragte ich.
„Stark dezimiert“, sagte er. „Es waren ja von der Familie nur meine Mutter, eine meiner Schwestern und ich noch übrig.“ Er holte tief Luft. „Meine Schwester hat es uns nie verziehen, dass wir sie zurückgelassen haben. Sie hat sich zeitlebens geweigert, uns zu treffen, und auch ihren Kindern jeden Kontakt untersagt.“ Er schaute mir in die Augen. „Ich habe ihre Kinder nie zu Gesicht bekommen, aber du wirst sie sehen“, sagte er. Das also war der Grund, weshalb Jacqueline uns so überstürzt miteinander bekannt gemacht hatte.
Weiterleben
Da das Landemanöver sich in die Länge zog, konnte ich in Gedanken noch einmal die Geschichte rekapitulieren, die Vahan Bey mir erzählt hatte.
Er war als kleiner Junge Zeuge schrecklichster Ereignisse geworden. Er hatte mit ansehen müssen, wie eine seiner älteren Schwestern vergewaltigt worden war und wie man anderen Frauen die Hände abgeschnitten hatte, um an ihre Armreifen zu kommen.
Ähnliche Geschichten kannte ich bereits. Aus den Büchern, die mein Vater mir hinterlassen hatte, oder besser gesagt, die ich nach seinem Tod dort, wo meine Mutter sie hingeräumt hatte, aufgestöbert und heimlich gelesen hatte. Aber zum ersten Mal hatte ich sie von jemandem gehört, der selbst dabei gewesen war.
Als sie in Aleppo angekommen waren, war seine Schwester schon nicht mehr bei ihnen gewesen. Ihre Mutter hatte ihre einzige verbliebene Tochter aus Angst, sie könnte vergewaltigt oder getötet werden, einem reichen türkischen Händler, einem alten Mann, zur Frau gegeben. Obwohl man dem kleinen Vahan die Ohren zugehalten hatte, war es ihm unmöglich gewesen, die Schreie seiner Schwester nicht zu hören. „Es ist mir zwar gelungen, nicht mehr ständig daran denken zu müssen, aber vergessen werde ich es nie“, hatte er gesagt, als er davon erzählte. „Auch