Sticht in meine Seele. Altug Barbaros. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Altug Barbaros
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944666723
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und auch denen, die ihr davon erzählen wollten, selten Gehör schenkte.

      „Sie war eine Kommilitonin meiner Mutter.“ Emmanuelle kicherte leise. „Das ist bei denen ein bisschen wie bei uns: Wenn meine Mutter nur hartnäckig genug ist, dann …“

      Während dieses Gesprächs zwischen Tür und Angel öffnete sich plötzlich die Wohnungstür meiner Nachbarin Anne Charlotte, einer mürrischen, einsamen alten Frau, die uns gebot, gefälligst etwas leiser zu sein. Was Emmanuelle offenbar als willkommene Gelegenheit auffasste, um bei mir einzutreten.

      „Lass uns noch ein letztes Glas zusammen trinken gehen“, schlug sie vor. Ich lehnte dankend ab, sagte, dass ich noch zu viel zu tun habe und morgen in aller Frühe zum Flughafen müsse. Gleichzeitig freute ich mich, dass sie mich anscheinend noch immer mochte, und merkte, dass ich ihr chaotisches Wesen und ihre Verlegenheit mir gegenüber vermisst hatte.

      Sie schaute mich eine Weile an, dann sagte sie: „Weißt du, was? Meine Mutter hat Marie Caroline von sich aus nach deiner Adresse gefragt. Sie will dich nämlich auch noch mal sehen. Und wenn wir jetzt nicht gehen, dann kommt sie hierher, das kannst du dir ja vorstellen. Ob du sie dann allerdings vor dem Morgengrauen wieder loswirst, sei dahingestellt.“

      Während sie das sagte, begann sie zu kichern. Im Grunde genommen hatte ich gar nichts dagegen, auszugehen und mich etwas abzulenken. Außerdem war jetzt, wo Emmanuelle und ich den gleichen Arbeitgeber hatten, vielleicht die Zeit gekommen, das Eis zwischen uns zu brechen. Vielleicht könnte ich auch, wenn ich mir die neuesten Eskapaden ihrer Mutter anhörte, meine eigenen Sorgen ein wenig vergessen. Und weil ich nicht einmal den ersten Schritt hatte machen müssen, sagte ich zu, ohne mich länger zu zieren.

      Jacquelines neuester Coup

      Tief in unsere dicken Mäntel gehüllt, machten wir uns durch die eiskalte Pariser Nacht auf den Weg nach Saint-Germain. Wir waren gerade im Restaurant angekommen und schüttelten die Schneeflocken von uns ab, als uns die gut gelaunte, kristallklare Stimme von Emmanuelles Mutter Jacqueline an die Ohren drang: „Les voilà!“

      Beim Näherkommen bemerkte ich einen Herrn, ein gutes Stück älter als sie, der ihr am Tisch gegenübersaß. Wahrscheinlich ihr neuer Verehrer, dachte ich. Jacqueline pflegte nie jemanden aufgrund seines Alters, sondern allenfalls aufgrund seines sozialen Status zu diskriminieren. Der Mann trug einen dunklen Anzug, hatte helle Haut und hielt sich auffällig gerade. Er schien damit der Klasse zu entsprechen, der sich auch Jacqueline zugehörig fühlte. Als wir vor dem Tisch standen, erhob sich Jacqueline und begrüßte mich mit zwei dicken Schmatzern auf die Wangen. Anschließend versuchte sie ungeschickt, die Spuren wegzuwischen, die ihr Lippenstift hinterlassen hatte, wies mir einen Platz an der Wandseite des für vier Personen ausgelegten Separees zu und setzte sich neben mich. Ihr Seidenschal, ihre lange Perlenkette, ihr üppiges Dekolleté – sie schien sich in keiner Weise verändert zu haben. Bloß ein wenig zugenommen hatte sie, aber das konnte nur eine Frau erkennen, denn durch die Wahl ihrer Kleidung war es ihr meisterhaft gelungen, die zusätzlichen Pfunde zu kaschieren.

      „Es geht doch nichts über alte Freundschaften“, sagte sie, indem sie Emmanuelle und mich anschaute. Dann zitierte sie den Kellner herbei und ließ ihn Champagner servieren. Mit theatralischer Geste ihr eigenes Glas hebend und mit uns anstoßend, sprach sie: „Auf die Freundschaft, die Geschwisterlichkeit und die Liebe. Sie sind immer die Gewinner.“

      Während wir das erste Glas tranken, fragte sie mich nach dem Befinden meiner Mutter, ob ich mit meiner Arbeit zufrieden sei, ob ich eine neue Beziehung hätte, wann ich aus Istanbul zurückzukehren gedächte, in welchem Hotel ich absteigen wolle, wann genau mein Flug gehe und noch so einige Dinge, die mir inzwischen entfallen sind, und als ihr Wissensdurst gestillt war, ließ sie den Kellner nachschenken. Dann bemerkte sie, dass wir beide die Einzigen am Tisch waren, die sich unterhielten. Oder vielleicht war mein Verhör auch einfach beendet, sodass wir zu ihrem Leben übergehen konnten, das es wert war, mit ungleich größerer Ausführlichkeit besprochen zu werden.

      Als wir ein weiteres Mal anstießen, nickte sie, fast entschuldigend, Emmanuelle und dem Mann zu, die uns gegenübersaßen. Dann sagte sie, an mich gewandt: „Ich wollte euch schon lange miteinander bekannt machen.“ Und zu ihm: „Derin ist wie eine zweite Tochter für mich, ich hatte dir ja von ihr erzählt.“ Wieder zu mir: „Meine liebe Derin, es war mir eine Herzensangelegenheit, dass ihr noch miteinander sprecht, bevor du nach Istanbul gehst. Das ist Doktor Vahan Marian. Wie du gehört er sozusagen zur Familie.“ Nach diesen Worten stand sie abrupt auf, griff nach Emmanuelles Hand, sagte: „Komm, Chérie, wir lassen die beiden allein, sie haben sicher einiges zu besprechen“, und war im nächsten Augenblick mit ihrer Tochter durch die Tür entschwunden.

      Während ich in einer Mischung aus Überraschung, Wut und Scham auf meinem Platz kleben blieb, kam der Kellner und füllte unsere Champagnergläser nach. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und stammelte etwas wie: „Danke, für mich nicht, ich muss los, mein Flug geht bald.“ Worüber sollte ich mit einem Mann sprechen, der so alt wie mein Großvater war und den ich noch nie zuvor gesehen hatte?

      Ohne ihm direkt ins Gesicht zu schauen, wünschte ich ihm noch einen schönen Abend und versuchte den Tisch etwas von mir wegzuschieben, um mich aus meiner beengten Lage zu befreien – als sich plötzlich eine Hand auf meine legte. Es war die alte Hand Doktor Vahan Marians. „Gehen Sie jetzt nicht“, sagte er. Oder vielleicht sagte er auch nichts, schaute mich bloß an und ich fasste von mir aus den Entschluss, zu bleiben.

      Eine Reise in die Vergangenheit

      Dieses Gefühl der Erleichterung, wenn das Flugzeug abhebt. Ein Aufatmen, als müsste ich nie wieder zurückkehren. Wolken. Schlaf.

      Nizza. Unser erster gemeinsamer Urlaub. Emmanuelle ist fröhlich, durcheinander und entspannt zugleich, wie immer. Ich dagegen bin nervös, unruhig und besorgt. Noch kann ich mir meinen seltsamen Zustand nicht erklären.

      Nizza. Die drei Tage, die wir dort gemeinsam verbrachten, waren für uns beide die schönsten unseres Lebens, so dachte ich damals. Wir hatten uns Handtücher aus der billigen Pension, in der wir untergekommen waren, mitgenommen, waren an einem Kiesstrand eng umschlungen eingeschlafen, und als wir wieder aufgewacht waren, hatte ein älteres Paar neben uns gelegen und zu uns herübergelächelt. Die Frau, die schon die ersten Altersflecken auf den Händen hatte, hatte von dem gut gekühlten Rosé, den sie mitgebracht hatten, etwas in zwei Plastikbecher gefüllt, sie uns herübergereicht und gesagt: „Ihr seid das schönste Paar, das wir hier jemals gesehen haben.“ Dann entspann sich eine gut gelaunte Unterhaltung. „Seit 37 Jahren sind wir zusammen“, sagte sie, „und haben nie geheiratet.“

      „Vielleicht ist das das Geheimnis“, sagte der Mann, blickte der Frau in die Augen und streichelte ihre Hand.

      „Und ihr?“

      Wir schauten einander an. „Seit zwei Jahren“, sagte Emmanuelle. Dann umarmte sie mich. Sie schmiegte ihren Kopf wie eine Katze an meine Brust, so wie ich es am liebsten mochte. Wir saßen am Strand, bis die Sonne unterging, redeten und tranken Wein. Als wir Hand in Hand ins Hotel zurückkehrten, noch immer nur mit unseren Bikinis bekleidet, waren wir ein wenig angesäuselt, aber sehr glücklich.

      Am nächsten Morgen ging mein Flug nach Paris und ich suchte leise meine Sachen zusammen, während Emmanuelle noch schlief. Die Sommersonne hatte den Raum schon leicht erwärmt. Ihre Strahlen fielen durch den hellen Vorhang und auf Emmanuelles gebräuntes Gesicht. Ich beugte mich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Berührte ihr blondes Haar, das sich über das Kissen verteilt hatte. Meine Geliebte. Noch wusste ich nicht, dass ich mich später immer an sie in dieser Pose erinnern würde.

      Landung

      Jeder schöne Traum hat ein Ende. Als die Stewardess mich sachte an die Schulter stieß, machte ich die Augen auf. „Wir befinden uns im Landeanflug, würden Sie sich bitte wieder anschnallen?“, sagte sie mit einem ruhigen, sanften Lächeln. Sie sprach leise, als wäre es ihr peinlich, mich geweckt