Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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zu diesen Unterirdischen, wie es sie vor allem bei den Nordländern mit ihren langen Winternächten gibt.

      Solche Menschen, meistens Frauen, vermögen feine Zeichen zu erkennen und zu deuten und verborgene Zusammenhänge zu sehen, wie sie Fellgiebel als Kopfmensch niemals würde bemerken können und die er, wenn man sie ihm zeigte, selbstverständlich strikt verwerfen würde. Immerhin war es ihr stets ein Leichtes, zum Beispiel einer Schwangeren das Geschlecht ihres Kindes vorauszusagen, allerdings nur dann zuverlässig, wenn sie die Frau nicht näher kannte, offenbar weil sonst allzu viele verborgene Anzeichen und verdeckte Botschaften auf sie einströmten, sodass jene, auf die es wohl ankam, darin untergingen.

      Sogar Fellgiebels Freund, der Pfarrer Liedel, damals noch Kaplan, war immer wieder von Mariannas Ankündigungen beeindruckt gewesen und hatte, aller schwarzen Kunst und Zauberei schon kraft Amtes abhold, eines Tages erkannt, dass sich das im Grunde leicht erklären lasse. Bei diesen Menschen sei eben die Vergangenheit von der Gegenwart und vor allem die Gegenwart von der Zukunft einfach nicht so klar voneinander getrennt. „Aha“, hatte Fellgiebel damals gespottet, „einfach nicht so klar getrennt. Jetzt wissen wir’s, das ist es!“

      Manchmal sagte Marianna zu Fellgiebel sogar ‚Pass auf, Wilhelm, im Wartezimmer sitzt ein Krebs‘, und gewöhnlich fand dann Fellgiebel diesen Patienten auch. Beim Bronchialkarzinom klappte es am besten und auch beim Magenkrebs nicht schlecht. Doch Marianna war nicht etwa stolz auf ihre Treffer. Sie leistete ihrem Mann, der einen guten Ruf als Diagnostiker hatte, diese unkonventionelle Hilfe nur ungern, weil sie sich nicht in die ärztlichen Belange einmischen wollte. Aber wenn sie etwas plötzlich so sicher wisse, dann sehe sie sich eben auch verpflichtet, es weiterzugeben und auszusprechen. – ‚Wie machst du das nur?‘, wollte Fellgiebel immer wieder von ihr wissen. ‚Ich weiß es nicht, ich weiß es doch nicht‘, rief dann Marianna gequält, die ohnehin schon genug unter ihren Ahnungen zu leiden hatte. – ‚Es könnte sein‘, hatte sie früher einmal geäußert, ‚dass ich es rieche. Ja, ich glaube, ich rieche es. Ich kann dir aber überhaupt nicht sagen, wie es riecht, es ist so unglaublich schwach. Wahrscheinlich kann ich gar nicht besser riechen als andere Menschen, sondern mich beeinflussen Gerüche eben nur viel stärker.‘ – Und auf Fellgiebels Ausruf, der in solchen Gesprächen dann gelegentlich folgte, dass das unbedingt einmal von jemandem wissenschaftlich untersucht werden müsse, drohte sie nur, ‚Untersteh dich!‘, weil sie als echte Unterirdische wusste, dass damit alles zerstört werden würde.

      Nun aber war plötzlich dieser Blick mit diesem Lächeln wieder da, und Marianna schüttelte ihre Mähne und sagte:

      „Ich habe nicht nur eine Idee, worum es gehen könnte – ich weiß es! Das ist mir ganz plötzlich gekommen. Ich hatte mit einem Male diesen Patienten aus der Traitteurstraße wieder vor mir. Ganz deutlich. Weißt du, dieser Pg. mit den Ulkusfalten, der letzte Woche in der Sprechstunde war. Als er sich verabschiedet hat, da hat er noch einen ganz kurzen Blick auf das Hitlerbild im Wartezimmer geworfen.“

      „Da werden doch die meisten, wenn sie rausgehen, noch einen kurzen Blick draufwerfen, der Schinken hängt ja direkt über der Tür!“

      „Kann sein, aber doch keinen solchen Blick, Wilhelm! Oh, du ahnst ja nicht, mein Lieber, wie viele verschiedene Blicke es gibt, mehr als Wörter im Deutschen, und jeder hat wieder eine etwas andere Bedeutung – das lässt sich nicht in Worten fassen! Zwischen diesem Blick und dem Ortsgruppenleiter gibt es eine direkte Verbindung, unsichtbar natürlich, aber ich kann sie trotzdem geradezu mit Händen greifen! Du kannst sicher sein, bei der Ortsgruppenleitung wird es um das neue Hitlerbild im Wartezimmer gehen.“

      Es hing tatsächlich erst seit wenigen Wochen. Fellgiebel hatte monatelang unter dem wachsenden Druck der Ärztekammer und auch der Kassenärztlichen Vereinigung gestanden, in seinem Wartezimmer oder an einer anderen prominenten Stelle in der Praxis doch endlich ein Bild des Führers aufzuhängen, und er war empört, dass offenbar Späher ausgesandt worden waren, die sich als Patienten ausgaben oder möglicherweise auch tatsächlich welche waren, was aber die Schnüffelei auch nicht besser machte. Als er während eines Hausbesuches bei einem Kunstmaler, der sich einen gewissen Namen mit idyllischen Landschaftsbildern aus dem Südschwarzwald gemacht hatte, in dessen Atelier mehrere mächtige Hitlerbilder sah – es waren davonfließende Aquarelle mit viel wässrigem Hellbraun, eines missglückter und unbeholfener als das andere –, da hatte er sich, ohne lange zu überlegen, für eines dieser Bilder entschieden, das ihm besonders misslungen schien, um es zu Hause in sein Wartezimmer zu hängen. Der Kunstmaler, ein gewisser Friedhelm Büngener und ein fanatischer Gefolgsmann Hitlers schon seit Jahren, hatte sich hochgeehrt gefühlt, vor allem auch durch diese außerordentliche Spontanität des Kaufentschlusses, und er hatte Fellgiebel, schon im Hinblick auf das ständig wechselnde Publikum und die gewiss zu erwartenden langen Betrachtungszeiten, die in einem Museum bei Weitem nicht zu erreichen gewesen wären, einen besonders günstigen Preis gemacht.

      Fellgiebel musste in den folgenden Tagen verschiedene Krankenbesuche in der Gegend, in der die Ortsgruppenleitung lag, absolvieren und fuhr mehrmals am Gebäude der Ortsgruppenleitung vorbei, aber er ließ sich Zeit mit seinem Besuch dort. Nicht dass er Hemmungen gehabt hätte, ‚nicht die geringsten!‘, wie er sagte, oder sich gar fürchtete vor diesem Besuch, sondern weil er Marianna und wohl auch sich selbst beweisen wollte, dass er nicht hin und her zu kommandieren sei und dass er komme, wenn es ihm passt.

      Dann machte er sich doch eines Morgens ziemlich früh auf den Weg zur Ortsgruppe, und zwar deshalb so zeitig, wie er Marianna bei der vorzeitigen Beendigung des Frühstücks erklärt hat, weil er so bei der Begrüßung des Ortsgruppenleiters am ehesten um dieses ‚Heil Hitler‘ herumkomme, das gelinge mit keinem Gruß zuverlässiger als mit einem betont freundlich und aufmunternd gesprochenen ‚Guten Morgen!‘, kein Vergleich zu ‚Guten Tag‘. Manchmal würde er in solchen Fällen sogar ‚Ja, guten Morgen, Herr Soundso!‘ mit fast übertrieben starker Betonung des ‚Mor-gen‘ sagen, dann klappe das Weglassen des Hitlergrußes immer. Natürlich hätte es Fellgiebel keine besondere Schwierigkeit bereitet, mit ‚Heil Hitler‘ zu grüßen – wie oft antwortete er doch in der Sprechstunde einem eifrigen oder vielleicht auch nur eingeschüchterten Patienten, der allzu stramm mit ‚Heil Hitler‘ grüßte, ebenfalls mit ‚Heil Hitler‘, wobei er jedoch die beiden Worte betont ruhig und deutlich aussprach, viel deutlicher als die meisten der eintretenden Patienten, was dann alle möglichen Deutungen zuließ. Überhaupt lohne es sich bei jeglicher Begegnung, stets auf den Tonfall und die sprachliche Sorgfalt beim Hitlergruß zu achten, das sei für eine erste grobe Einordnung des Gegenübers stets von Vorteil. Dem Ortsgruppenleiter jedenfalls wollte er die zweifelhafte kleine Aufmerksamkeit eines korrekten Hitlergrußes auf keinen Fall zukommen lassen, obwohl dieser schon vor Jahren einmal als Patient bei ihm gewesen war.

      Der Ortsgruppenleiter traf erst ein paar Minuten nach ihm ein, Fellgiebel saß in einem Sessel in der Halle und rief ihm im bewährt frohen Ton sein ‚Guten Morgen, Herr Ortsgruppenleiter!‘ zu.

      Es klappte, und der Ortsgruppenleiter tat überraschter, als er war, und rief: „Sieh da, der Herr Doktor Fellgiebel!“, und dann, nicht mehr so theatralisch: „Komm, lassen Sie uns geschwind in mein Büro gehen!“

      Dort fuhr er dann in einem gar nicht einmal so unfreundlichen Ton fort: „Was hört man da von Ihnen so alles in der letzten Zeit, Doktor?“

      „Von mir?“, fragte Fellgiebel überrascht und tat so, als denke er nach. „Ich habe weder telefoniert noch geschrieben noch sonst etwas, weder auf dem Dienstweg noch direkt.“

      „Nein, ich meine doch nicht, was man von Ihnen, sondern was man über Sie hört, Doktor.“

      „Ach so“, antwortete Fellgiebel und tat erleichtert, „nun ja, wer weiß, was da die Leute so daherreden! Da fragen Sie am besten mich direkt!“

      Fellgiebel freute sich, dass er den Ortsgruppenleiter da hatte, wo er ihn haben wollte, und dieser wohl einräumen musste, dass es hier doch offenbar nur um Gerede ging; der Ortsgruppenleiter dagegen ärgerte sich über Fellgiebels gespielte Begriffsstutzigkeit.

      „Sie hatten“, fuhr er in schärferem Ton fort, „im Gegensatz zu Ihren Kollegen lange Zeit in Ihrer Praxis kein Bild des Führers hängen. Trotz immer wieder neuer