Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
Скачать книгу
offenbar vorbereitet waren, herzlich-derb begrüßt hatten. Er konnte sich deshalb noch so genau daran erinnern, weil das für ihn der Beginn einer tiefen und gänzlich neuartigen Erfahrung war, nämlich immer mehr einzutauchen in eine festgefügte Gruppe, von ihr aufgenommen zu werden und in ihr aufzugehen, aber dabei auch immer mehr von sich selbst zu Gunsten der Gruppe aufzugeben.

      Herkommer hatte sich schon bald wohlgefühlt unter diesen Hauptamtlichen, ja er liebte die Gruppe, obwohl er eigentlich keinen dieser Leute als Einzelnen besonders mochte oder gar zum Freund hätte haben wollen – waren es doch im Grunde ziemlich trübe Gestalten, Versager, die sich von der schiefen Bahn in die SA hatten hinüberretten können, kleine Gauner auch ohne Aussichten, die sich nun neue Chancen mit neuem Rang und Ansehen ausrechneten. Solange sie Uniform trugen, schien es Herkommer damals, war ihre Vergangenheit neutralisiert und sie waren nichts als Teile einer tüchtigen Gruppe gewesen; sah man sie in Zivil, war man mindestens enttäuscht, wenn nicht gar bestürzt.

      Einer von ihnen war erst am nächsten Tag nachgekommen, in Zivil, ein unscheinbares, schmächtiges Kerlchen, blass, lahm und nichtssagend in jeder Hinsicht, aber als er wieder in seine SA-Uniform geschlüpft war, weiß Gott kein besonders eindrucksvoller Aufzug, da war er plötzlich wer, da hatte er auf Herkommer, obwohl noch genau derselbe wie vorher, plötzlich vif gewirkt, fix, beweglich, pfiffig. – Oder ob er sich vielleich in Uniform dann doch etwas anders verhalten hatte?

      Bei seiner eigenen Einkleidung am Tag darauf hatte Herkommer an sich selbst erlebt, wie sehr auch er diesem Uniformeffekt unterlag. Das war eigenartig gewesen: Im gleichen Augenblick, da er das Koppelschloss eingehakt hatte – mit diesem ‚Klick‘ war für ihn das Ankleiden beendet –, da gehörte er endgültig dazu – er war uniformiert. Und zugleich spürte er, er war jetzt nicht nur ein Teil dieser Gruppe, sondern – auch dieses viel verborgenere Gefühl stellte sich allmählich ein – auch die Gruppe ein Teil von ihm.

      Das war anfangs ein äußerst angenehmer und behaglicher Zustand gewesen. Man fühlte sich wundervoll geborgen, wenn man sich nur genügend einordnete und sich bedingungslos den verschiedenen Führern fügte, nicht nur den niederrangigen, die die unmittelbaren waren, sondern auch den höheren und den hochrangigen gar, die immer wieder mit irgendwelchen Sonderaufgaben erschienen, weil diese Hauptamtlichen eine Stabseinheit bildeten, über die man rasch verfügen konnte.

      Irgendwann war dann gar der Standartenführer dagewesen, hatte sie antreten lassen und ihnen am Ende einer längeren Ansprache in einem fast feierlichen Ton erklärt:

      „Männer! Ihr seid die Keimzelle einer kasernierten SA! Und mehr noch: Ihr seid der Kern einer revolutionären Volksmiliz, nämlich eines riesigen Volksheeres, das in nicht allzu langer Zeit entstehen wird, und in dem die Reichswehr vollständig aufgehen soll. Aus euch, aus solchen kleinen ausgesuchten Kadern, wie sie jetzt an vielen Orten im Reich gebildet worden sind, soll unser Führungsnachwuchs entstehen. – Versteht ihr, was das heißt? – Versteht ihr, was das für euch bedeutet? – Was es bedeutet, schon im ersten Jahr des Tausendjährigen Reichs als Führungsnachwuchs ausgewählt worden zu sein? Das ist eure einmalige Chance, Leute!“

      Beachtung finden, beachtet werden, das war für alle in der Gruppe ein wichtiges Thema, für manchen, der vor seiner SA-Zeit arg herumgestoßen worden war, ein Lebensthema geradezu. Entsprechend ernst genommen hatten sich die jungen Männer nach der Ansprache des Standartenführers gefühlt, und umso mehr war ihre Bereitschaft gewachsen, sich noch enger zusammenzuschließen und sich als eine Gruppe der Besonderen immer mehr abzuheben von allen anderen. Auch Herkommer hatte nicht ohne Stolz dieses weitere Erstarken ihrer Gruppe verspürt, zugleich aber war ihm dabei zum ersten Mal aufgegangen, wie eingefangen er in dieser Gruppe war. Von da an hatte ihn dieser Gedanke, dass er eben zugleich auch ein Gefangener der Gruppe sei, häufiger einmal bedrängt, und es wurde ihm allmählich immer klarer, dass sie alle miteinander in ihrer Gruppe gefangen waren, weil sie sich gegenseitig gefangen hielten. Der anfangs so willkommene Zustand, die Wärme der Gruppe und die Übereinstimmung zu genießen, begann, seine Anziehungskraft zu verlieren. Die Vorstellung, ein kleines, aber eben auch wichtiges Rädchen zu sein, das sich zwar niemals aus eigenem Antrieb bewegt, aber in seinen Bewegungen in stetem Gleichtakt mit seinen Nachbarrädchen steht, dieses Gefühl war allmählich gar nicht mehr so erstrebenswert.

      Der kleine Blasse hatte ihm einmal sogar gesagt, dass das ja gerade das Schöne in einer solchen Gruppe sei, dass man nichts selbst entscheiden müsse, man habe nichts weiter zu tun, als die Anordnungen zu befolgen, da könne man nichts weiter falsch machen und keiner würde einen hinterher für irgendetwas zur Verantwortung ziehen. Er würde überhaupt nicht verstehen, was da manche mit ihrer ‚Selbstbestimmung‘ wollten, das seien doch nur disziplinlose Künstlertypen und so, die nie gelernt hätten, zu gehorchen und sich einzuordnen, um gemeinsam mit anderen eine große Sache zu tragen. Klare Anweisungen, und seien sie noch so streng, das sei ihm viel wichtiger als die ganze Selbstbestimmerei. Alle späteren Vaterlandsverräter hätten erst einmal mit dem Gerede über Mitbestimmung und Selbstbestimmung angefangen, aber nicht mit Einordnen und die Klappe halten gefälligst, das könnten die nämlich nicht.

      Da hatte Herkommer dann doch sehr aufgemerkt. So verworren das alles auch war, was er da hatte anhören müssen, eines war ihm dabei aufgegangen: Je mehr er sich der Gruppe unterwarf, je besser er sich einfügte und alle Verantwortung abgab, umso mehr ließ er sich in ihr auch treiben und umso mehr verlor er seine Initiative. Worunter er aber noch mehr litt, das spürte er erst jetzt so recht: Ob er wollte oder nicht, Einordnung führte bei ihm stets – und viel stärker wohl als bei seinen Kameraden – zur Unterordnung, zu einer sehr tiefen Unterordnung noch dazu, nicht nur gegenüber den direkten Vorgesetzten, sondern auch gegenüber der Gruppe und damit auch gegenüber den einzelnen Kameraden. Er fügte sich dann allem und jedem, erledigte widerspruchslos alles, was auf ihn zukam, und wurde natürlich auch entsprechend ausgenutzt. Einordnung bestand bei ihm so sehr aus Unterordnung, dass sie, nicht nur gegenüber seinen Vorgesetzten, sondern auch gegenüber den Kameraden, stets zugleich auch etwas Beflissenes, manchmal direkt Unterwürfiges hatte. Und dass Einordnung eben stets Unterordnung zu sein hat, das war ihm schon als Kind eingebläut worden, da kam er nicht gegen an.

      Wie er so darüber nachdachte, war er sich mit einem Mal sicher gewesen: Ich darf einfach nicht in der Gruppe aufgehen, jedenfalls nicht ganz, so schön das manchmal auch wäre. Ich muss einfach hin und wieder den anderen gegenüber Widerstand leisten und ihnen auch einmal widersprechen. Ich muss auch gegenüber den Vorgesetzten meine eigenen Vorschläge vertreten – ich muss mich einfach freimachen von diesen Fesseln der Gruppe, von dieser Unterjochung, erst dann kann ich meine Fähigkeiten richtig entfalten und wieder Initiative entwickeln. Was sonst soll Führungsnachwuchs denn heißen?

      Wenn Violet ihn einmal als den willfährigen und servilen Gruppenkuli sehen würde, war ihm noch in den Sinn gekommen, ihn, der allen zu Gefallen war, sie würde das nicht für möglich halten, und er müsste sich schämen.

      Diese neu gewonnenen Einsichten waren Herkommer nicht nur einmal durch den Kopf gegangen und dann wieder verschwunden, wie das häufig so ist, sondern er musste wohl geahnt haben, wie wichtig sie für ihn waren. Und so hatten sie sich in Vorsätze verwandelt, die er sich jeden Abend aufs Neue ins Gedächtnis gerufen hatte, um den vergangenen Tag zu untersuchen, ob er sich schon gebessert hatte und wo er noch entschiedener hätte auftreten müssen. Herkommer spürte, dass er viel eigenständiger und selbstbewusster werden müsste, wenn er vorankommen wollte.

      So versuchte er immer häufiger einmal, sich bei diesem oder jenem seiner Kameraden durchzusetzen und sogar dem Scharführer seinen eigenen Standpunkt zu erläutern, wenn er sich seiner Sache sicher war. Auch war es durchaus möglich, dass er, ganz im Gegensatz zu früher, selbst dann mit seiner Auffassung nicht hinter dem Berge hielt, wenn er wusste, dass er mit seiner Meinung im Augenblick noch allein stand. Gelegentlich hatte er dann auch einmal eine Putzfrau angeschnauzt, was er früher nie gewagt hätte, oder einen Handwerksburschen im Haus herumkommandiert, wenn ihm das notwendig erschien.

      Es hatte nicht lange gedauert, da war auch im Verhalten seiner Kameraden eine Veränderung zu spüren gewesen. Nicht dass er unbeliebt geworden wäre, im Gegenteil, man beachtete ihn, man bemühte sich um ihn, viel mehr als früher. Man fragte ihn und setzte nicht mehr sein Einverständnis als selbstverständlich voraus.