Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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      Später war er dann auf die Idee gekommen, dass man ihre mütterlichen Instinkte stärker beanspruchen müsse, denn ihre Tochter aus erster Ehe, die ja noch im Hause war und sich übrigens rührend um sie bemühte, war schon fast eine junge Dame und ließ sich längst nicht mehr so innig bemuttern, wie das für Mariannas Balance, nachdem man ihr den pflegebedürftigen Siegfried weggenommen hatte, offenbar notwendig war. So lag es für Fellgiebel nahe, sich über ein neues Objekt für ihre Mutterliebe Gedanken zu machen, und dabei hätte es gar nicht anders sein können, als dass er alsbald auf Jan kam. So geschah es denn auch – Jan wurde aus dem Internat kurzerhand zurückbeordert.

      Jan war kaum eingetroffen, da schlug Fellgiebels Therapie auch schon an. Marianna setzte sich jeden Abend zu Jan ans Bett, las ihm vor oder plauderte mit ihm, am Morgen weckte sie ihn behutsam und half ihm sogar beim Anziehen. In den ersten Tagen brachte sie ihn noch zur Schule, und bei Tisch war sie bestrebt, ihn, der sich in der neuen Umgebung eher still verhielt, möglichst in alle Gespräche einzubeziehen. Wenn er abends in der Badewanne saß, wusch sie ihn mit Zärtlichkeit und Sorgfalt, was ihm schon seit Jahren nicht mehr widerfahren war. Schon nach wenigen Tagen zeigte sich Marianna fast glücklich und lachte endlich einmal wieder, und ihr Zustand besserte sich rasch. Zwar sprach sie, wenn sie mit ihrem Mann allein war, immer noch viel von Siegfried, oft in einer sehr nachdenklichen Weise, aber längst nicht mehr in diesem gequälten Ton wie in den vergangenen Wochen.

      Der arme Jan, der in seinem Leben noch nicht viele Erfahrungen mit derart robuster Bemutterung hatte sammeln können, verhielt sich eher scheu, aber keineswegs abweisend, und genoss es offensichtlich, plötzlich so viel Beachtung zu finden. Dagegen waren ihm die polternde Freundlichkeit und die aufdrängende Zuwendung seines Stiefvaters, der er bei jeder zufälligen Begegnung in Haus und Hof ausgesetzt war, eher lästig. So konnte es schon einmal vorkommen, dass er beim Verlassen seines Zimmers erst einen Augenblick lauschte, ob der Weg nach unten frei war, denn wenn er seinem neuen Vater begegnete – auch wenn dieser mit jemandem sprach und er sich vorbeizustehlen versuchte –, konnte das ein ausführliches, wenn auch meistens ziemlich einseitiges Gespräch nach sich ziehen mit vielen Fragen, die er beantworten sollte. ‚Halt, mein Freund‘, rief Fellgiebel dann, ‚ist alles in Ordnung? – Geht es dir gut? – Warst du heute schon auf der Toilette? – Kommst du mit deinen Hausaufgaben zurecht?‘

      Wenn er dann womöglich noch näher auf die Schule zu sprechen kam und seine Auffassung über die Bedeutung der einzelnen Fächer kundtat, konnte das Gespräch sehr lange gehen. Jan war ja durchaus bereit, geduldig zuzuhören, wenn sein ruhiges Zuhören nur nicht immer wieder durch die vielen eingestreuten Vergewisserungsfragen, auf die er antworten musste, unterbrochen worden wäre. Da wurde ihm dann jedes Mal deutlich, in welch einem Missverhältnis das raumfüllende Dröhnen seines neuen Vaters zu dem dünnen Fiepsen seiner kurzen Antworten stand, und er fühlte sich fast erdrückt. –

      „Ich habe Ihren Sohn neben ein auffallend aktives und kontaktfreudiges Kind gesetzt“, sagte der Klassenlehrer, „einen gewissen Enrico, er kommt aus einer bekannten Artistenfamilie. Der Einzige in der Klasse, den alle Lehrer mit seinem Vornamen aufrufen. Das ist eigentlich sein Künstlername. Der wird uns helfen, den stillen Jan ein wenig aufzulockern.“

      Und so geschah es denn auch, und der Klassenlehrer tat alles, um Jan aus seiner vorsichtigen Zurückhaltung herauszuhelfen.

      „Enrico“, eröffnete er die Erdkundestunde, „du warst doch schon selber in den Küstenstädten und in den Seebädern und auch auf den Inseln, nicht wahr? Damit fangen wir heute an, die Küstenregion Nordsee. Du kannst derweil mal durch das ganze Haus marschieren und die Zeitschriften für die Sammlung der Kriegsgräberfürsorge auf die Klassen verteilen, pro Schüler ein Exemplar, und nur während der Stunde, nicht in den Pausen, sonst gibt’s da womöglich noch eine Balgerei um die Hefte. Am besten nimmst du dir deinen Nachbarn mit, den Jan Fellgiebel, zu zweit könnt ihr das besser tragen.“

      Enrico war die Küstenregion tatsächlich schon ein wenig vertraut, weil er schon mehrmals während der Ferien seine Eltern auf wochenlangen Tourneen an die Nordsee hatte begleiten dürfen. Jan dagegen wäre während der Erdkundestunde viel lieber in der Klasse geblieben, weil er noch überhaupt nichts vom Norden Deutschlands wusste, und vor allem nicht vom Meer, das ihn schon als Kind, jedes Mal wenn davon gesprochen worden war, hatte aufhorchen lassen. –

      „Bei den nächsten gehst du voran“, drängte Enrico, „du hast ja jetzt gesehen, wie’s geht!“

      Die nächste Klasse, das waren ausgerechnet Große, eine Obersekunda, ‚O II.a‘ stand an der Tür. Jan klopfte vorsichtig an, mehrmals. Im Klassenzimmer schien es lebhaft zuzugehen. Dann war etwas zu hören, was man als ‚Herein‘ deuten konnte, sie traten zögernd ein und nahmen nebeneinander Aufstellung in der Nähe der Tür. Der Lehrer, der nicht unbeliebte, aber auch gefürchtete Dr. Fürst, las gerade seiner Klasse aus Don Karlos jenen berühmten Auftritt des dritten Aktes vor, in dem der Malteserritter Marquis von Posa von Philipp II., den Fürst natürlich gleich mitlas, Gedankenfreiheit forderte. Man muss dazu wissen, dass Fürst schon als Schüler zum Verdruss seiner Eltern hatte Schauspieler werden wollen und während seines Germanistikstudiums nicht nur Theaterwissenschaft belegt, sondern heimlich jahrelang Schauspielunterricht genommen hatte, intensiv, nicht nur so nebenher, wie er betonte. Im Gymnasium betreute er dann die Theatergruppe, die bald alle anderen Schülertheatergruppen im Lande übertraf, und leitete sämtliche Schulfeiern, in denen gesungen, musiziert oder vorgetragen wurde, vom Direktor deshalb bei entsprechenden Anlässen in freundlichem Spott mit ‚Herr Intendant‘ angeredet.

      Daraus erklärt sich, dass er die berühmte Szenenfolge nicht einfach flüchtig herunterlas, sie auch nicht seiner Klasse mit einiger Sorgfalt vorlas, sondern er trug sie vor, nein, er spielte sie, mit Donner und Getöse und zog dabei, wie er das in solchen Fällen immer tat, auch die letzten Register. Eine solche Darbietung kann freilich nicht an beliebiger Stelle unterbrochen werden, und so dauerte es eine Weile, bis er innehalten konnte, um endlich zu den beiden kleinen Quintanern hinüberzublicken.

      „Was wollt ihr?“, herrschte er die beiden an, noch immer in gehobenem Tone und mit gestützter Stimme, die er auch an sich selbst so liebte. Jan und Enrico machten scheu einen hastigen Hitlergruß, und Jan sagte, dass sie in allen Klassen die Zeitschriften für die Sammlung der Kriegsgräberfürsorge verteilen sollten, wobei Jan spürte, dass sein Stimmchen, das ja noch ungebrochen war, in so unmittelbarem Anschluss an Dr. Fürsts mächtigen Auftritt noch dünner klang als im Zwiegespräch mit seinem Stiefvater.

      „Hinaus mit euch!“, donnerte Fürst im gleichen Ton weiter, „und noch einmal von vorn! Deutliches Anklopfen – warten, bis man euch hereinruft – dann die Tür hinter euch schließen – drei Schritte in den Raum treten – nebeneinander aufstellen – und dann, beide gleichzeitig, grüßen! Aber nicht wie der Tünnes in der Kneipe oder die Tante Thusnelda beim Friseur mit ‚Heidla‘, so wie ihr beide eben“, wobei er darauf achtete, dass bei ‚Heidla‘ ein ganz kurzes ‚a‘ am Ende stand. „Also den Gruß deutlich sprechen, ohne Hast, ganz vorn im Mund geformt und genügend kraftvoll: Heil Hitler!“

      Und als ob das immer noch nicht genügend klar geworden sei, wiederholte er noch einmal mit großer Geste und in höchster Betonung: „H e i l“, und da machte er eine winzige Pause und fuhr fort, „H i t t - l e r r ! – Und nicht Heidla“, wobei er erst die drei letzten Worte nicht mehr mit gestützter Stimme sprach, sodass sie wieder ganz zum Alltag gehörten.

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