Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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nur genau weiß, wie er auf der Guarneri klingen würde, sondern ihn buchstäblich höre – ich höre die Guarneri bei jedem Ton mit.“

      „Wenn du dich auf einen bestimmten Ton konzentrierst?“

      „Nein, nein, das gilt ja nicht nur für einzelne Töne, sondern für ganze Passagen, da erst recht. Das gilt überhaupt!“, sagte Sabine langsam, als ob sie sich erst erinnernd vergewissern müsse, aber dann richtete sie ihren Blick auf die Zukunft und fuhr energisch fort: „Graz, Genf, Zürich – da kommt jetzt alles drauf an! Ich werde noch mehr üben. Und noch etwas werde ich tun, Viktor, – Fremdsprachen büffeln!“

      Viktor freute sich darüber, wie Bienchen sich nicht unterkriegen lassen wollte und von den Absagen eher angefeuert als entmutigt schien. Das waren offenbar die Früchte der Erziehung durch ihren greisen Lehrmeisters am Konservatorium, der ihr in allen schwierigen Situationen immer wieder abverlangt hatte: ‚gegenhalten!‘ – nicht nachgeben bei allen möglichen Widrigkeiten, die sich beim Üben einstellen können, aber gegenhalten auch gegenüber eigenen Stimmungen und dem momentanen Befinden. Nichts sei wichtiger für einen professionellen Musiker – und auch für jeden, der ein solcher werden wolle, so fügte er meistens noch hinzu –, auch dann, gerade dann, unerbittlich weiterzuüben, ja die Anstrengungen sogar noch zu verstärken, eben gegenzuhalten, wenn man nicht die geringste Lust dazu verspüre und man sich vielleicht miserabel, ungerecht behandelt oder gar gedemütigt fühle. Denn später werde es so manchen Auftritt geben, wo sie, obwohl sie sich elend fühle, einfach spielen muss, ob sie will oder nicht, und wenn sie das Spielen unter solch niederdrückenden Bedingungen nicht geübt hat und sie zum Beispiel nur dann auf ihrem Instrument jubilieren kann, wenn ihr zum Jubeln zu Mute ist, dann wird das nie befriedigend funktionieren. Alles andere sei bloß ein Musizieren von Amateuren, reine Gelegenheitsmusik.

      Dann schickte sich Sabine an, mit dem Üben zu beginnen.

      „Das ist ja geradezu ein Training!“, meinte Viktor. Sabine war über diesen Vergleich nicht im Geringsten überrascht und sagte nur: „Natürlich – was dachtest du?“, war aber schon ganz bei ihrer Violine.

      Viktor setzte sich wieder brav in seine Ecke und hörte zu. Schon nach wenigen Takten fühlte er – er spürte es mehr, als dass er es gehört oder gesehen hätte –, wie sich die Violine zu einem Teil von Sabine verwandelte. Das war seltsam, aber jeder Takt bestätigte ihm aufs Neue, dass es wirklich so war. Begann nach einer kurzen Pause der nächste Satz oder ein neues Stück, so dauerte es oft nur die ersten zwei, drei Töne, und schon trat dieses eigentümliche Phänomen wieder auf: Was da spielte, das war mehr als ein Mensch und eine Violine, die sich zusammengetan hatten. Es war eine neue Einheit, die unauflösbar und untrennbar geworden zu sein schien. Viktor sprach in einer Pause mit Sabine darüber.

      „Das wundert mich, Viktor, dass man das hört –“

      „– nein, ich höre es nicht eigentlich, ich spüre es irgendwie.“

      Es dauere immer erst einen Moment, meinte Sabine, bis diese Veränderung eintrete. Manchmal geschehe es fast augenblicklich, manchmal mit Verzögerung. Sie müsse da gewissermaßen erst in die Violine hineinfließen – nein, nicht in das Innere der Geige natürlich; man könne es vielleicht besser umgekehrt beschreiben, die Violine gehöre dann plötzlich mit zu ihr, sie sei dann plötzlich zu einem Teil ihrer selbst geworden.

      In den ersten Jahren, als sie noch in die üblichen Geigenstunden gegangen sei, hätte sie dieses Erlebnis überhaupt nicht gekannt. Eines Tages aber, zu Hause beim Üben, sei dieser seltsame Zustand eingetreten, das sei für sie geradezu eine Offenbarung gewesen. Die Violine sei plötzlich kein Gegenstand mehr gewesen und habe angefangen zu singen, als sei sie körperlos.

      „Erst von da an bin ich wirklich eine Geigerin gewesen. Vorher habe ich nicht einmal geahnt, was mir da noch gefehlt hat, aber von da an habe ich gewusst, wo ich hinmuss.“

      Sabine entfernte ein gerissenes Haar aus ihrem Bogen.

      „Mein Gott, Viktor, darüber habe ich mit noch keinem Menschen auf der Welt gesprochen!“, sagte Sabine plötzlich und sah Viktor nachdenklich an. „Ich wüsste auch nicht, mit wem ich mich sonst darüber unterhalten könnte. Weißt du, man spürt, dass wir uns schon als Kinder gut kannten …“

      Je besser trainiert sie sei, fuhr sie fort (und sie hatte tatsächlich ‚trainiert‘ gesagt), desto schneller trete dieser Zustand ein, zum Beispiel wenn sie sich vor Konzertbeginn erst mal einspiele, und umso leichter sei er zu erlangen. Bevor man ihn erreicht habe – in der Ausbildung dauere das wohl Jahre, wenn man sich dagegen vor einem Konzert einspiele, vielleicht nicht einmal eine halbe Minute –, bevor man also diesen Zustand erreicht habe, sei es so, als antworte die Violine dem Spieler; sei es so, als würde der Spieler irgendeinen bestimmten Ton oder eine Tonfolge in einer ganz bestimmten Art und Weise bloß anregen, und die Violine würde dann das singen, was der Spieler ihr vorgegeben habe. Das geschehe natürlich nicht nacheinander, sondern ‚Vorgabe‘ und ‚Antwort‘ fänden absolut gleichzeit statt. Natürlich sei diese ‚Antwort‘ bei einem eher durchschnittlichen Geiger nie wirklich haargenau das, was er erwartet habe; und wahrscheinlich würde er auch gar nicht etwas so Genaues erwarten. Aber diese Abweichungen zwischen ‚Vorgabe‘ und ‚Antwort‘ würden allmählich immer geringer, und eines Tages seien ‚Vorgabe‘ und ‚Antwort‘ ineinander aufgegangen und so jede Abweichungen voneinander verschwunden. Die Geige sage dann wirklich haargenau das, was auch der Geiger sagen wolle, denn die Geige sei dann der Geiger selbst und der Geiger sei die Geige – erst wenn das, was das Instrument da sagt oder singt, keine ‚Antworten‘ mehr seien, sei aus den beiden eine wirklich vollkommene Einheit geworden.

      „Und das spürt dann der Geiger?“

      „Ja, sofort, und zwar verbunden mit einem großen Glücksgefühl, so ist es jedenfalls bei mir. Nicht nur ich stelle mich auf die Violine ein, sondern, umgekehrt, die Violine auch auf mich – darum würde ich es ja auch sofort merken, wenn zufällig jemand anderes auf meinem Instrument gespielt hätte.“

      Der höchste Grad eines solchen Einswerdens sei bei ihr übrigens erreicht gewesen, fuhr Sabine nach einer kleinen Pause fort, als sie eines Tages während eines Konzerts gespürt habe, dass nicht nur die Violine mit ihr, sondern ebenso auch sie mit dem ganzen Orchester verschmolzen gewesen sei und es nur noch ein einziges gemeinsames Tun gegeben habe. Dieses gemeinsame Tun habe nicht nur darin bestanden, dass die Handlungen jedes einzelnen Mitglieds genauestens gleichgerichtet gewesen seien – das erreiche jedes ordentliche Orchester –, sondern dass die ganzen Einzelhandlungen bei all ihrer Verschiedenartigkeit nur noch eine einzige gemeinsame Handlung darstellten, wenngleich sie auf viele Personen verteilt gewesen sei.

      Viktor spürte, wie schwer Sabine die Beschreibung dieser subtilen Vorgänge fiel, und versuchte sie zu ermuntern, indem er bestätigte: „Das ist alles sehr schwer in Worte zu fassen.“

      „Mit dem ganzen Orchester eine wirkliche Einheit zu bilden, das ist eines der großartigsten Gefühle, die es für einen Solisten gibt! Und doch muss man aufpassen, dass man nicht in der wunderbaren Geborgenheit des Orchesters versinkt. Man muss jedes Mal wieder raus, sonst geht man als Solist im Wohlbehagen unter. Wie schon so mancher.“

      „Dieses Entstehen einer Einheit ist wohl bei allen Instrumenten so, meinst du nicht?“

      „Sicherlich, aber wahrscheinlich bei den Streichinstrumenten besonders ausgeprägt.“

      „Ich erinnere mich, Onkel Max, der Bruder von meinem Vater, war ja ein großer Ruderer vor dem Herrn, und der erzählte von seinem Achter bei der Amicitia etwas ganz Ähnliches –“, Viktor unterbrach sich, „entschuldige, wenn ich dein Violinspiel unpassenderweise mit dem Rudern vergleiche!“

      „Nein, nein, ist schon recht, Viktor.“

      Sofern die Mannschaft genügend gemeinsam trainiert habe, führte Viktor aus, sei irgendwann nach dem Start das zwingende Erlebnis aufgekommen ‚Jetzt läuft er!‘, und zwar ganz plötzlich und für alle gleichzeitig und mit dem Gefühl großer Gewissheit. Es sei gewesen, als ob das Boot plötzlich schwebte, fast widerstandslos dahinglitte. Von da an sei auch das Zusammenspiel perfekt gewesen. Die seien also plötzlich eine Einheit