Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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einen ehrgeizigen Streber gehalten, dem nichts wichtiger war, als in allem an erster Stelle zu stehen. Aber das stimmte nicht, je länger er Dieter zuhörte, desto klarer wurde ihm, Dieter war ein extremer Perfektionist: Jede Aufgabe, ganz egal was, die man übertragen bekommt oder aus eigenen Stücken übernimmt, ist so perfekt wie nur irgend möglich zu lösen; sie ist ohne Rücksicht auf Aufwand, Einsatz und persönliches Risiko – und dazu noch in gehörigem Tempo – zum bestmöglichen Ende zu bringen. Das war es, was ihn in allen Fächern, ja überhaupt bei allem, an die Spitze brachte, und nicht, weil er den Lehrern gefallen wollte, denen er zum Teil doch bemerkenswert kritisch gegenüberstand.

      Ehrgeiz und Strebertum, das waren eigentlich ziemlich unbrauchbare Wörter, fand Viktor. Ehrgeiz, das heißt, so wie er das Wort verstand, Leistungsbereitschaft, das musste ja nichts Schlechtes sein, aber Strebertum, das war zu verwerfen. Wie schlecht die Wörter passten, das sah man an Dieter, denn eigentlich sind doch Ehrgeizige wie er einfach nur strebsam – ohne dass sie unbedingt mit der Ehre geizen würden, und für Streber hält man doch eher solche, die sich bloß anstrengen, weil sie sich beim Lehrer ein rotes Röckchen machen und ihre Klassenkameraden ausstechen wollen. Ja, so ähnlich muss das wohl sein. –

      Schon am Tag nach ihrer Ankunft hatten sie sich aufgemacht, Ludwig zu besuchen. Auf dem Klingelschild stand ‚Violeta Bohner‘ und ganz klein ‚L. Herkommer 2 x‘ darunter, doch als sie geläutet hatten, zweimal, öffnete Frau Bohner.

      „Entschuldigen Sie bitte – Viktor Zabener“, verbeugte sich Viktor, „wir wollten Herrn Herkommer besuchen, ich bin ein früherer Schulkamerad von ihm.“

      „Oh, da haben Sie Glück“, rief Frau Bohner, „er ist da“, und dann lauter: „Ludwig! Du hast Besuch, zwei Herren.“

      Viktor war grenzenlos gespannt, als sie eintraten, und da kam er ihnen auch schon laut lachend über die knarrenden Dielen entgegen: immer noch eher klein, aber doch größer, als er ihn in Erinnerung hatte, dazu athletisch, breitschultrig und kurzhalsig, mit einem Wort bullig, dabei breitstirnig und großspurig und grölend. Das ist ja ein richtiger Mann geworden, dachte Viktor, und er kam sich blass und käsig dagegen vor, ein linkischer Internatsschüler, hoch aufgeschossen und staksig. Herkommer dagegen sah Viktor ganz anders. Ihm imponierte Viktor geradezu in seiner etwas unbeholfenen Vornehmheit. So sehen junge Herren eben aus, dachte er, als er ihn mit sich selbst verglich. Noch mehr aber beeindruckte ihn der mitgekommene Dieter Pilgrim in seinem weltmännischen Auftreten, der in so perfekten Sätzen daherreden konnte.

      Frau Bohner, erfreut über das unverhoffte Leben in ihrer Wohnung, bot an, einen gedeckten Apfelkuchen zu servieren.

      „Tee oder Kaffee dazu?“

      „Kaffee, Kaffee“, entschied Herkommer ohne die Wünsche seiner Gäste abzuwarten, „aber du kommst mit dazu!“

      Es entfaltete sich, so verschieden diese Vier auch waren, ein Geplauder, das sich erst gegen Ende plötzlich verdunkeln sollte.

      Herkommer erzählte nicht uninteressant von seinen Erlebnissen als Eisenbahner, trug dabei jedoch reichlich dick auf und tat erhaben, was manchmal doch etwas blasiert wirkte; es war spürbar, dass er vor allem Dieter Pilgrim imponieren wollte. Aber der Jubel, den er anstimmte, als er hörte, dass Viktor erwäge, sein Studium in Erlangen zu beginnen, klang dann wieder ganz natürlich.

      Fast besser noch als Ludwig Herkommer beherrschte Dieter Pilgrim die Kunst, mittels kleiner Kopfbewegungen und Blicke zu reden. Als Frau Bohner in die Küche ging, schaute er zu Viktor hinüber, und sobald er Blickkontakt mit ihm hatte, hob er mit einem kleinen Ruck den Kopf, wie eine Art Nicken nach oben, wobei er die Augenbrauen leicht hochzog – das war aber nur der erste Teil der Nachricht. Noch in der gleichen Sekunde machte er mit schräg gehaltenem Kopf noch einmal eine solche kurze Bewegung, mehr zur Seite, in Richtung Küche; danach schaute er mit einem kaum sichtbaren Schmunzeln versonnen auf Herkommer. Viktor verstand sofort. Das sollte wohl heißen: Achte auf diese Frau, sie ist hier nicht nebensächlich; und es hieß außerdem noch: ei, dieser Ludwig!

      Frau Bohner war glücklich, sie fühlte sich unter den jungen Leuten wie unter Gleichaltrigen und von diesen auch aufgenommen. Wenn Ludwig und sie zusammen waren, was sich selten genug ergab, so waren sie stets allein miteinander gewesen, nie hatten sie Gäste, nie waren sie zusammen in der Öffentlichkeit, nicht einmal in einem Biergarten oder im Kino, auch vor den Hausbewohnern hielten sie sich als Paar stets verborgen.

      Viktor und Dieter erzählten ausführlich vom Internatsleben und was es dort alles an Misstaten gegeben habe, Frau Bohner sprach von Erlebnissen auf ihren Fotoreisen, die fast schon Expeditionen waren, und Herkommer berichtete am Schluss noch von seiner beruflichen Entwicklung und, etwas verwirrend, von seinen Plänen, die eigentlich schon mehr seien als nur Pläne. Der Polizeidirektor Steinwald, der mächtigste Mann in ganz Nürnberg, direkt unter dem Polizeipräsidenten, habe einen Narren an ihm gefressen und wolle ihn unbedingt wiederhaben.

      „Wieso wiederhaben?“, fragte Viktor.

      „Oho“, schaltete sich Frau Bohner lachend ein, „Ludwig war eine Berühmtheit in der Nürnberger Polizei!“ Und schon stand sie auf, um die Zeitungsausschnitte mit den Berichten über die großen Erfolge Herkommers als ziviler Polizeihundeführer herbeizuholen.

      „Nichts da“, wehrte Herkommer, plötzlich bescheiden geworden, ab, „nicht ich! Das war der Gaski, einer der besten Polizeihunde, die es je gab. Aber dieser Steinwald will mich halt haben, übrigens nicht wegen der Hundeführerei, von daher kennt er mich nur, sondern durch die Eisenbahnkatastrophe in Schirnding ist das gekommen. Unser Betriebsvorstand hatte ihm davon erzählt, das sind irgendwie Parteifreunde. Jedenfalls scheide ich bei der Oberfränkischen Eisenbahngesellschaft aus, am Freitag ist mein letzter Tag, unser Betriebsvorstand gab mich sogar gerne ab, sagte er, ohne dass ich nun darüber enttäuscht sein müsste. ‚Solche Kerle sind bei uns in der Partei noch wichtiger als bei der Bahn. Besonnene und vor allem harte Männer, die werden wir bitter brauchen!‘, soll er gesagt haben“, freute sich Ludwig.

      Frau Bohner, die von all dem offenbar noch nichts Genaueres gehört hatte, freute sich: „Dann kommst du also wirklich wieder ganz nach Nürnberg?“

      „Freilich!“

      „Ja sag mal“, wollte Viktor noch wissen, „dann bist du also ab nächster Woche wieder bei der Polizei?“

      „Nicht direkt –“, rückte Herkommer zögernd heraus, „ich habe einen Posten bei der deutschen Arbeiterpartei –“, ‚nationalsozialistischen‘ ließ er lieber weg, „als hauptamtlicher Mitarbeiter bei der SA, die hat aber ebenfalls gewisse Ordnungsfunktionen.“

      „Pah“, platzte Dieter Pilgrim da heraus, „Schlägerfunktionen meinen Sie wohl, Ludwig! Das würde ich mir an Ihrer Stelle doch noch gut überlegen!“

      „Aus der SA, nicht aus dem Militär, wird sich das künftige Volksheer entwickeln, Herr Pilgrim, und je früher ich dabei bin, desto besser meine Aussichten.“

      Bei dem Wort Volksheer war Pilgrim, immerhin Sohn eines Generals der Reichswehr, zusammengezuckt und wollte noch eine Bemerkung dazu machen, sagte dann aber nichts mehr. Frau Bohner, die Herkommer gegenübersaß, war, nachdem sie das mit der SA erfahren hatte, ebenso verstummt und blickte mit plötzlich ausdruckslos gewordenem Gesicht an Herkommer vorbei.

      Danach wollte kein rechtes Gespräch mehr aufkommen. Frau Bohner, die fast die Lebhafteste gewesen war, schluckte nur noch und brachte nicht ein Wort mehr heraus. Schon bald rüsteten sich die Gäste zum Aufbruch. Man versprach, sich wiedersehen zu wollen, und keiner ahnte, dass sie sich nie wieder zu viert treffen würden.

      Herkommer ging zusammen mit den Gästen, um noch etwas zu erledigen. Frau Bohner blieb allein in der Wohnung zurück. –

      Nach einer verzweifelten Nacht fuhr Violet Bohner in aller Frühe zu ihrer Tante Constanze nach München. Tante Constanze, wohlhabende Witwe ohne eigene Kinder, war die Schwester ihres Vaters und ihr immer zärtlich zugetan gewesen. Ach, sie hätte sie schon viel früher einmal besuchen sollen! Seit der letzten Begegnung sind doch Jahre vergangen, und der Anfang ihres Gespräches, ja das Gespräch überhaupt wird schwierig werden. Aber sie wüsste sonst keinen Menschen, an den sie