Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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Gespann, die da miteinander sprachen. Marwitz war langjähriger Associé und hatte sich Mack, der als der hoffnungsvollste der drei Referendare bereits einen Vorvertrag als künftiger Associé in der Tasche hatte, als seinen besonderen Assistenten herangezogen, den er englisch ‚Mac‘ zu rufen pflegte und dem er als internes Kürzel und Diktatzeichen ‚Mc‘ zugewiesen hatte.

      Strauss war äußerst unbehaglich zu Mute. Wenn sie ihn sehen würden! Das wäre ihm unendlich peinlich – als ob er sie hätte belauschen wollen! Aber wieso denn ihm peinlich, fragte er sich ärgerlich, was hatte er denn getan? Es war ihm doch nur deshalb so peinlich, weil er wusste, wie peinlich es den beiden sein müsste, wenn sie ihn sähen. Und es ärgerte ihn, dass er sich in seiner eigenen Kanzlei verborgen halten musste. Zum Glück gingen sie bald wieder. –

      2_Der Judenboykott in Nürnberg am 1. April 1933

      Am Samstag des Judenboykotts war Violet Bohner nichtsahnend in der Früh zum Einkaufen gegangen. Der Konditor Rothenburger, den sie schon seit vielen Jahren gut kannte, war gerade damit beschäftigt, die breite Klinke und die Messingbeschläge der Eingangstür zu seinem Café auf Hochglanz zu bringen und erklärte ihr gut gelaunt, wie wichtig das sei, nicht nur, weil das jetzt in der Frühjahrssonne so wunderschön aussehe, wobei er prüfend einen Schritt zurücktrat, sondern weil das Messing nur dann, wenn es wirklich blank sei, die Bazillen, die sich unvermeidlich darauf ausbreiteten, abtöten könne. Violet hatte da ihre Zweifel, aber sie erfreute sich an seinem behaglich klingenden Fränkisch, das sie so gerne hörte, und sie überlegte, ob es vielleicht doch nicht ganz stimme, dass jede Großstadt auch die schönste Mundart im Lauf der Zeit verdirbt und zugrunde richtet, als plötzlich auf Rothenburgers Hand, die gerade noch einmal über die Rundung der Klinke fuhr, ein breiter Farbpinsel spritzend niederschlug und gleichzeitig, zusammen mit einem hässlichen Fluch, die Worte ertönten ‚Nimm dei Pfotn weg, Stinkjudd dreckiger, und mach fei Platz!‘

      Es war seltsam, aber noch ehe Violet herumfuhr – in diesem winzigen Augenblick, da die samstägliche Vormittagsidylle umkippte in die Grausamkeit des organisierten Judenboykotts –, fiel ihr als Erstes schaudernd auf, wie ekelhaft ein Großstadtdialekt halt doch klingen kann, dann erst wich sie vor dem schwitzenden SA-Mann zurück, der riesengroß direkt hinter ihr stand und sich anschickte, halb über sie hinweg einen ungelenken Davidstern auf das Glas der Eingangstür zu schmieren.

      Rothenburger stand sprachlos da, mit weit geöffneten Augen und offenem Mund, und wischte sich hilflos die Farbe von den Fingern, und Violet lief wie ein Kind weinend davon.

      Sie hastete verstört durch die Straßen. Allenthalben das gleiche Bild: Geschäfte mit vollgeschmierten Schaufenstern; davor, Plakate klebend, Männer in braunen Uniformen; dazwischen ein paar überraschte Passanten, eher irritiert als begeistert; keiner von ihnen, der versucht hätte, in einen der Läden einzutreten. Sie lief und lief, als könne sie dem Geschehen entkommen, sie lief, als müsse sich doch endlich eine Straße finden lassen, in der noch Frieden herrschte und wo die Gewalt, die überall schon lauerte, noch nicht losgebrochen war.

      Am schlimmsten wüteten die Trupps weiter im Norden der Stadt. Als Violet dort ankam, waren sie bei einem großen Automobilhändler gerade dabei, mit Hilfe einer fauchenden Lötlampe einen meterhohen Davidstern in ein Garagentor zu brennen. Das war, tiefschwarz auf dem dunkelbraunen Holz, für Violet, die Fotografin, ein ungemein bedrohlich wirkendes Bild, und die Straße roch nach Aufruhr, Brand und Krieg. Für einen Augenblick glaubte Violet, ein paar Häuser weiter in einem Rudel Uniformierter Ludwig erkannt zu haben, der sich schon seit Tagen nicht mehr zu Hause hatte sehen lassen. Als sie näher kam, sah sie, dass die Männer dort damit beschäftigt waren, mit offenbar vorher angefertigten Metallstempeln, die sie mit einem Schweißbrenner erhitzten, handtellergroße, aber durch die Art der Aufbringung recht exakte Davidsterne in das Holz dieser oder jener Haustür einzubrennen.

      „Eines Tages werden wir noch die Juden selber so markieren“, unterhielten sich vergnügt zwei junge SA-Männer über ihre Arbeit.

      „Ja, auf den dicken Arsch draufgebrannt. Wie die Brandzeichen bei den Pferden!“, lachten sie zusammen.

      „Mensch, das würde ich gern mal machen. Auch bei den fetten Weibern!“

      Ludwig war nicht mit dabei. Violet atmete auf und war zugleich enttäuscht, ihn nicht angetroffen zu haben. Sie hatte Ludwig noch nie in Uniform gesehen, die zu tragen er sorgfältig vermied, wenn er in die Wohnung kam.

      Violet wehrte sich gegen den Gedanken, der ihr beim Betrachten dieses kleinen Davidsterns kam, aber sie konnte ihm nicht entkommen: Durch seine Akkuratesse nämlich erhielt dieser Davidstern, dem gegenüber die mit dem Pinsel oder auch mit der Lötlampe aufgebrachten Sterne nur pöbelhafte Schmierereien waren, den Anschein einer gewissen Legitimation, sodass er den Charakter einer offiziösen Kennzeichnung gewann. So spricht die Staatsgewalt! Die hingeschmierten Sterne dagegen, die stammten von denen aus der Gosse, die auch mittun wollten. Wie hier, so hätte man die Davidsterne überall machen müssen, ging es Violet durch den Kopf, und gleichzeitig ärgerte sie sich, dass es mit ihr schon so weit gekommen war, dass sie sich Gedanken darüber machte, wie es der Feind besser machen könnte.

      Nachdem es in der Bayreuther Straße allerdings zu einem Brand gekommen war, bei dem die Feuerwehr hatte eingreifen müssen, wurde noch am späten Vormittag von der Gauleitung jede Art der ‚Feuermarkierung‘, wie sie das nannten und auf die angeblich der Gauleiter Streicher persönlich gekommen war, gestoppt. –

      Wieder zu Hause warf sich Violet aufgelöst auf ihr Bett. Nach einer Weile hörte sie mit Unbehagen, dass Herkommer in der Wohnung war. Sie wollte jetzt allein sein. Doch es ging nicht lange, da glaubte sie, ein Geräusch an der Tür wahrzunehmen. Sie hob den Kopf und tatsächlich, da war ein ganz leises Anklopfen zu hören. Es war ein vorsichtiges Anklopfen nur, aber es war trotzdem, gerade jetzt, eine lästige Störung. Für einen Augenblick war Violet überrascht, dass das Anklopfen dennoch so zärtlich klang, und rief fragend: „Ja?“

      Die Türklinke senkte sich zögernd, und dann erschien mit einem sanften Lächeln Herkommers Gesicht im Türspalt. Violet schloss tief atmend die Augen und flüsterte:

      „Schrecklich das alles –“

      „Die sind vom Affen gebissen!“, antwortete Herkommer laut.

      Violet spürte, wie sich Herkommer behutsam auf den Bettrand setzte.

      „Warst du da auch dabei?“, fragte sie schließlich.

      „Das waren die SA-Stürme, ich bin im Stab bei der Partei, in der Kreisleitung.“

      Danach herrschte wieder Stille, kein Wort über Minuten.

      „Hab keine Angst! Du stehst unter meinem Schutz!“

      Darauf Violet: „Wir werden von nun an noch viel mehr im Verborgenen leben müssen! Ich ertrage das nicht länger –“

      Mein Leben war so schön wieder ins Gleichgewicht gekommen die letzten Jahre, dachte Violet, ach, hätte ich ihn doch nie gesehen! Doch das war ungerecht, wie sie schnell wieder einsah. Ihr Leben war mit Ludwig, bei allem Kummer, ungleich vielfältiger geworden. Eintönig geradezu war es gewesen, bevor er kam. Wie viel Spannung und Bewegung war mit ihm eingezogen! Diese Jugendlichkeit, dieses Unverbrauchte! Es reizte sie, dass bei ihm alles noch so offen war, kein fertig ausgeprägter Mann mit seinen Abnutzungen und speziellen Eigenarten, sondern ein Mann wie fabrikneu gewissermaßen, ein Mann im Ursprungszustand, könnte man sagen. Ihre Gedanken waren wirr. Sie musste für einen Augenblick sogar eingeschlafen gewesen sein und hätte so gerne weitergeschlafen, um ihren Gedanken zu entgehen.

      Warum nur litt sie so sehr darunter, dass sie ihre Verbindung verborgen halten mussten? Es kam ihr vor, als müssten sie ständig im Dunkeln leben. Sie hätte so gerne immer wieder einmal mit ihm zusammen hinaus gewollt – mit ihm zusammen ins Café gehen, in ein Restaurant, ins Theater, ins Kino. Mit ihm durch die Straßen schlendern, in die Läden schauen, Hand in Hand über die großen Plätze bummeln.

      Ging es ihr womöglich darum, so prüfte sie sich selbst, ihn, ihren Ludwig als ihren Fang, den anderen Leuten vorzuzeigen? Oder darum, schicke Kleider mit ihm