Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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den ganzen Zug, vorne beginnen! Eine Trage von uns hängt im Lokomotivschuppen, ganz links. Anschließend breiten Sie über Tote, die Sie im Gelände finden, eine Wolldecke“, wobei er sah, wie da der Jüngere von beiden doch ein wenig zurückzuckte, während der andere es bei einem Schlucken beließ. „Decken, ebenso Karbidlampen“, fuhr Herkommer unbeirrt fort, „holen Sie sich drüben in der Lokleitung. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie wieder zu mir!“

      So bekam jeder der eingetroffenen Bahnbediensteten eine Aufgabe – der eine hatte zu prüfen, ob noch alle Lokomotiven im Lokomotivschuppen, dessen Dach ziemlich beschädigt war, einsatzfähig waren, denn mit der Lokleitung war wohl nicht mehr zu rechnen; ein anderer sollte klären, ob die Ausfahrgeleise dort und die Schiebebühne noch intakt waren; wieder ein anderer hatte eintreffende Ärzte und Sanitäter sofort in den Sanitätsbereich zu bringen, wohin auch weitere Sanitätsfahrzeuge zu geleiten seien; und einer schließlich sollte unbedingt versuchen, auf dem schnellsten Wege, über den Bahntelegrafen oder irgendwo telefonisch, eine Meldung nach Bayreuth abzusetzen. Dann rief er allen noch laut zu:

      „Noch etwas, ganz wichtig! Keinerlei Auskünfte an die Presse! Wenn da welche von der Zeitung kommen, sofort zu mir schicken!“

      Bald schon wurde ihm gemeldet, dass alle Lokomotiven bis auf eine unbeschädigt seien und auch die Ausfahrt über die Schiebebühne bei einiger Vorsicht möglich sein müsste. Daraufhin rief er mit der Trillerpfeife noch einmal alle Schaffner, Lokführer und Heizer zu sich und ordnete in forschem Ton an, dass der Dienstplan und somit auch Fahrplan und Abfahrtszeiten in der Frühe so weit wie nur irgend möglich einzuhalten seien. Herkommers Kopf arbeitete präzise und kalt wie eine Rechenmaschine, schnell, fehlerfrei, unbeeinflusst, leidenschaftslos – es gab keine törichten Gefühle, es gab nichts, was hätte stören können.

      Er wunderte sich selbst, wie widerspruchslos sich alle fügten. Sie waren die ersten Augenblicke wohl noch zu verwirrt und zu weichgeklopft vom Entsetzen, um gegenüber diesem jungen Mann, der da so sicher auftrat, aufzubegehren, und als dann doch Einzelne Widerspruch vielleicht erwogen, war er von den meisten schon als Anführer akzeptiert. Ein alter Schaffner antwortete sogar mit einem strammen ‚Jawoll!‘ und legte die Hand an die Mütze, froh, dass wenigstens einer da war, der ihnen sagte, was zu tun sei – ganz egal was. Inzwischen waren die ersten Rettungsfahrzeuge eingetroffen, und auch ein paar Mann von der Freiwilligen Feuerwehr erschienen. Auch denen sagte er in der gleichen Weise, was zu geschehen habe, und sie spurten ebenso.

      „Achten Sie als Uniformierte vor allem darauf“, sagte er den Feuerwehrleuten, „dass nicht Unbefugte das Bahngelände betreten!“ Denn inzwischen waren auch viele Neugierige herbeigekommen, die von seinen eigenen Leuten kaum mehr in Schach zu halten waren, und er zeigte den Männern die zu sichernden Zugänge zum Bahngelände.

      Herkommer beherrschte seine Rolle als Kopf des Ganzen mit einer solchen Selbstverständlichkeit und er gab seine Anweisungen so perfekt und mit so viel ungerührter Kompetenz, dass man hätte glauben können, das alles sei vorher einstudiert und geprobt worden, und da sich alle fügten, weil eben jeder mit einer wichtigen Aufgabe beschäftigt und alle Unbeteiligten ferngehalten wurden, konnte es gar nicht anders sein, als dass allmählich doch eine gewisse Ordnung in das Chaos kam.

      Umso schlimmer aber waren dann die Meldungen, die nach und nach bei Herkommer eintrafen. Mindestens sechs Tote bis jetzt, darunter der Lokführer und sein Heizer, den hatte Herkommer gekannt; an die zwanzig Verletzte, darunter acht Schwerverletzte mit großflächigen Verbrühungen; die anderen durch Glassplitter und herumfliegende Trümmer mehr oder weniger schwer verletzt. Er fragte sich, wo diese vielen Leute hergekommen waren; der Gefährdungskreis musste jedenfalls einen erheblichen Durchmesser gehabt haben, und genau im Zentrum dieses Kreises hatten der Lokführer gestanden und sein Heizer, ein netter Kerl, dessen Tod Herkommer, dem es nur um die möglichst perfekte Bewältigung dieser Katastrophe ging, zwar mit Bedauern zur Kenntnis nahm, der ihn aber nicht wirklich berührte.

      Herkommer spürte nicht das erste Mal, dass er jetzt eigentlich traurig oder gar bestürzt sein müsste oder dass er in eine Situation geraten war, in der er Furcht oder Angst haben sollte oder Mitgefühl aufbringen und vielleicht sogar Mitleid entwickeln müsste; er wusste also, dass es da noch etwas gab, was bei ihm aber nicht ansprang. Als ob er blind geworden sei dafür. –

      Sogar der Zeitungsreporter aus Marktredwitz war inzwischen aufgetaucht, es war derselbe, der ihm schon in Neusorg nach dem Unfall mit dem kleinen Mädchen auf die Nerven gegangen war.

      „Wissen Sie denn schon, was überhaupt passiert ist? Eine Explosion oder was?“

      „Ganz genau wissen wir das!“, sagte Herkommer. „Das werde ich Ihnen nachher gern erklären, alles ziemlich kompliziert. Warten Sie drüben im Goldenen Stern auf mich!“

      Der Goldene Stern war inzwischen hell erleuchtet, aber der Reporter sah auf die Uhr und jammerte, dass keine Minute zu verlieren sei, der eigentliche Redaktionsschluss sei längst vorüber, und wenn das erst einen Tag später erscheint, klagte er, kriege ich dafür höchstens halb so viele Zeilen. Nun ja, dachte Herkommer, gehe ich halt gleich mit ihm hinüber, bevor er dummes Zeug schreibt, aber wie das alles kam und was die beiden auf der Lokomotive alles falsch gemacht haben, das werde ich ihm nicht sagen, das weiß man ohnehin erst nach der Untersuchung genau.

      Als er mit dem Reporter im Schlepptau schnellen Schritts dem Hoteleingang zustrebte, traten die Schaulustigen und Gaffer, die sich vor dem Goldenen Stern angesammelt und seine Befehlsausgabe aus der Ferne mitverfolgt hatten, ehrfurchtsvoll zur Seite und bildeten eine Gasse, was er wie selbstverständlich hinnahm, obwohl er es genoss.

      Sie saßen noch nicht recht, da hatte Herkommer schon das beklemmende Gefühl, dass der Reporter jedes einzelne Wort, das er ihm sagte, mitstenografierte. Da musst du aufpassen, Ludwig, dachte er. Er nannte ihm als erstes die Zahl der Toten und Verletzten und schilderte die enormen Sachschäden, soweit sie schon zu übersehen waren. Der Reporter schrieb ununterbrochen mit. Dass der zerfetzte Kessel fünfzig Meter weit geflogen war, schien ihn besonders zu beschäftigen. ‚Ein Bild der Verwüstung‘, hörte ihn Herkommer sich selbst leise diktieren.

      „Aber wie ist das alles passiert? Vielleicht eine Explosion im Gepäckwagen?“

      „Ach was, der Zug war schon abgestellt am Bahnsteig. Er ist nur wenig beschädigt, der Frachtwagen schon gar nicht. Vorwiegend Glasschäden durch die Druckwelle. Und natürlich unter den paar Passagieren, die sich noch auf dem Bahnsteig befanden, etliche Verletzte durch herumfliegende Trümmer und Glassplitter. Nein nein, im Zentrum der Zerstörungen stand die Lokomotive. Die hatte vermutlich Wassermangel.“

      „Wie kann das passieren?“

      „Nun, beispielsweise durch eine unbemerkt gebliebene Leckage“, antwortete Herkommer. Der Kerl bohrt doch genau an der richtigen Stelle, dachte er, jetzt muss er mich bloß noch nach dem Wasserstandsanzeiger und dem Sicherheitsventil fragen!

      „Und wieso ist dann alles in die Luft geflogen, nur weil die Lokomotive kein Wasser mehr hatte?“

      „Das ist ein komplizierter Vorgang. Er heißt Kesselzerknall und kommt zum Glück nur selten vor, aber er ist der Schrecken eines jeden Heizers und Lokführers, schlimmer als jede Explosion. Wenn Wassermangel herrscht, ist ein Teil der Feuerbüchse, in der sich die Glut befindet, nicht mehr mit Wasser bedeckt, sodass sie unheimlich heiß wird. Beim Abbremsen vor der Schiebebühne – das hätte genauso schon vorher beim Anhalten auf dem Bahnsteig passieren können, da haben wir noch großes Glück gehabt! –, ist das Restwasser über den trockengeheizten Teil der Feuerbüchse, der wahrscheinlich sogar schon glühte, hinweggeschwappt und vom einen Augenblick auf den anderen ist schlagartig eine enorme Dampfmenge entstanden. Der Druck schnellte trotz Sicherheitsventil empor und an irgendeiner Stelle, vielleicht im Bereich der überhitzten Feuerbüchse, war ihm der Kessel nicht mehr gewachsen und riss auf.“

      „Aha, so ist also der Kessel explodiert.“

      „Nein, das wäre im Vergleich dazu noch harmlos, die eigentliche Katastrophe folgte erst, und zwar schon im nächsten Moment! Der Druck im Kessel fiel also schlagartig ab, als der Kessel riss, – und man möchte meinen, dass das ja nur gut ist! –, aber dadurch verdampfte im gleichen Augenblick