WIE SOLLTE MAN DAS BÖSE in der vorwissenschaftlichen Welt besser erklären als mit der beständigen Missgunst eines Ahriman?
Stellen Sie sich vor, Sie wären im alten Persien und kümmerten sich gerade um Ihren Laden, als der Familienhund, ein Saluki, sich vom seit Jahren geliebten, treuen Familienbeschützer in ein geiferndes Monster verwandelt. Er wird plötzlich bösartig. Er knurrt, entblößt die Fangzähne, Schaum bildet sich im Maul und tropft von seinen vampirhaften Eckzähnen. Er springt auf, bewegt sich gezielt in Richtung Ihrer sieben Monate alten Tochter und späht in deren Korb. In einer Schrecksekunde begreifen Sie, dass sich Ihr Hund auf Ihr Baby stürzt. Wie sollte man diese schreckliche Verwandlung anders als mit dämonischer Besessenheit erklären?
Aber das ist nicht die Geschichte von Gut und Böse, vom Kampf zwischen Gott und Dämon. Es ist die Geschichte vom Jäger und seiner Beute. In diesem Fall ist der Jäger mikroskopisch klein. Krankheitserreger sind diabolisch kluge Jäger – sie erlegen ihre Wirte, nachdem sie sie zur Verbreitung ihrer Krankheit genutzt haben. Nur weil er zufällig vor ungefähr drei Wochen oder einigen Monaten einer mit Tollwut infizierten Fledermaus begegnete, wird dieser arme, unglückliche Hund ohne eigenes Verschulden zum Hauptdarsteller einer Horrorgeschichte.
Wenn die Krankheitserreger in der Blutbahn sind, rasen die Viren zum Hirn und befallen das limbische System. Die Tollwutviren oder Lyssaviren, benannt nach der Verkörperung des Wahnsinns und der Raserei in der griechischen Antike, manipulieren dort meisterhaft die Verschaltungen, die Wut auslösen. Der Hund wird zum zähnefletschenden Wolf, aus dem er sich einst entwickelte. Schwadronen von Viren belagern die Nervenzellen, dringen in sie ein und bringen die Maschinerie des Nervensystems in ihre Gewalt. Durch den Angriff der Viren auf die Nervenzellen wird das Tier zum herz- und furchtlosen Monster ohne Treue oder Liebe.
Eine Schwadron zylinderförmiger Viren schert aus und steuert die Nerven in der Hundekehle an. Das limbische System ist erobert, nun wird ein Virentrupp abgeordnet, um die Speichelproduktion zu steigern. Seine Aufgabe ist es, dem Hund die Schluckfähigkeit zu nehmen. Das maximiert die Chancen, dass Speichel mit Viren vom Hund auf das nächste Ziel übertragen wird. Ströme von Speichel fließen aus dem Maul des Hunds auf seine Brust und den Boden, was die Aussicht der Viren verbessert, neue Opfer zu finden.
Wie koordinieren Viren eine so ausgeklügelte Serie von taktischen Angriffen? Woher weiß das Virus, in welchem Teil des Hirns die Wut sitzt? Wir wissen das erst seit Kurzem. Das ist die Macht der Evolution durch natürliche Selektion. Eine zufällige, hochspezialisierte Mutation – etwa die Fähigkeit eines Virus, die Kehle des Opfers zu lähmen – wird sich bei ausreichender Zeit durchsetzen. Wenn sie die Überlebenschance des Virus erhöht, wird sie weitervererbt. Das Lyssavirus braucht in jeder Generation nur einen Überträger, um die bösartige Flamme am Leben zu erhalten.
Das Lyssavirus ist ein Meister der Manipulation, vom unheimlichen Wissen über die Neurologie der Beute bis zur Systematik und Präzision seines Angriffs. Das Eindringen in sein Opfer und seine Versklavung erinnern an den akribischen Kriegsplan eines der berühmtesten Generäle der Geschichte. Das Lyssavirus ist ein genialer Stratege.
Wir sind unsichtbaren Kräften ausgeliefert: Viren, Mikroben, Hormonen, unserer DNS. Unsere Vorfahren wählten die einzige Erklärung, die sie für das plötzliche dämonische Verhalten eines Hundes oder für das eines Kindes fanden, das mit 20 Jahren plötzlich begann, sich wie auf Geheiß von Kreaturen seltsam zu verhalten. Was sonst konnte das sein außer einem Teufelsfluch?
Das zylinderförmige Lyssavirus besitzt Glykoproteinstacheln – in diesem Computermodell rosa –, mit denen es sich an Zellen festhakt. Es zerstört die Persönlichkeit des befallenen Wirts.
NACHDEM WIR NUN UNS VERBORGENE biologische Mechanismen verstehen, können wir da noch an unserer Vorstellung vom Bösen festhalten? Die eigentlichen Taten mögen böse sein, aber diejenigen, die von unsichtbaren Kräften gesteuert werden, sind so unschuldig wie dieser arme Hund. Wir können das Geschehen nur verstehen, wenn wir Ahura Mazda und Ahriman oder eines ihrer Ebenbilder nicht mehr als Erklärung anbieten, warum unsere Welt so ist, wie sie ist. Aber die Verkörperungen des Bösen und die übernatürlichen Avatare des Guten dominieren weite Teile der Populärkultur; nach einiger Zeit der Verdrängung triumphieren sie fast unvermeidlich.
Versetzen wir uns in einen Außerirdischen oder Archäologen in ferner Zukunft, der etwas über unsere Zivilisation zu erfahren versucht. Das 21. Jahrhundert erlebte eine beispiellose wissenschaftliche und technologische Entwicklung. Die Menschen streckten wie nie zuvor ihre Fühler in Raum und Zeit des Universums aus. Sie drangen in Nanowelten vor, die in den Tiefen der Materie verborgen liegen, und schufen dreidimensionale Erfahrungswelten. Nutzten sie diese neu erworbenen Kräfte für Entdeckungsreisen in die von der Wissenschaft enthüllten Welten oder um das Wissen der Öffentlichkeit über die Natur zu vertiefen? Kaum. Man verwendete sie hauptsächlich zur Konstruktion bedrohlicher Roboter für zerstörerische Kämpfe bis zum Tod – ritualisierte Inszenierungen der Gladiatorenkämpfe zwischen Ahura Mazda und Ahriman, die die massenhafte Vernichtung von Städten und zahllosen Leben zur Folge hatten.
Und die ganze Zeit über bauten sie am sechsten Saal im Monument des Aussterbens. In einem seltenen Fall von Einsicht benannten sie ihn nach sich selbst – Anthropozän. Die Gänge des Neubaus wuchsen stetig durch immer neue Tableaus vernichteter Arten und Lebensräume, bis wir Menschen mit einem Schlag aufwachten – aber weswegen?
LENKEN UNS DIE VIER MILLIARDEN JAHRE LEBENSDREHBUCH, die in unseren Zellen niedergeschrieben sind? Ist die Existenz nur ein Kampf zwischen den genetischen Anweisungen konkurrierender Organismen – in dem wir, die Pflanzen und die Tiere kaum mehr als oder gar nur reine Schachfiguren sind? Lassen sich Geschichte und Leben darauf reduzieren? Ist DNS gleich Schicksal? Wir ringen noch immer mit dieser Frage. Unser Wissen über uns und die uns umgebende Natur ist keineswegs vollständig.
Carl und mich beeindruckte die Kraft einer speziellen Chemikalie, bei einem anderen Lebewesen eine spezifische Handlung auszulösen. Eine sterbende Honigbiene sondert Ölsäure ab. Der Geruch dieses »Todespheromons« zeigt den anderen Bienen an, dass diese Biene von Leichenträgerinnen hinausgeschafft werden muss. Es verblüffte uns, dass selbst eine gesunde, mit etwas Ölsäure betupfte Biene wie eine Leiche entfernt wird, so heftig sie auch protestiert. Das gilt selbst für die Königin, die für das Volk eine entscheidende Rolle spielt.
Wir waren erschüttert. Was heißt das für unsere eigenen Rituale? Erkennen Bienen die Infektionsgefahr durch die Verstorbene für das Volk? Haben Bienen eine Vorstellung vom Tod?
Während Jahrmillionen ihrer Kollektiverfahrung verströmten Bienen immer nur im Todeskampf Ölsäure. Erst in der letzten Zehntelsekunde des Kosmischen Kalenders erforderte Ölsäure eine spezielle Reaktion. Das dadurch ausgelöste sofortige Bestattungsverhalten ist die perfekte Anpassung an die Bedürfnisse der Bienen.
Sechs der 350 000 Käferarten der Welt. Die natürliche Selektion ist ein unvergleichlicher Künstler. V. L. N. R.: Sternotomis bohemani, Neptunides stanleyi, Proctenius chamaeleon, Donacia vulgaris, Goliathus meleagris und Carabus intricatus (Dunkelblauer Laufkäfer).
Ähnliche unmittelbare Verhaltensweisen, ohne offensichtliche Anweisung, finden wir bei vielen Tieren. Die Gans stupst ein aus dem Nest gerolltes Ei wieder zurück – ein Verhalten mit naheliegendem Wert für die Erhaltung der Gene der Gans. Sie rollt sogar alles aus der Umgebung des Nests zurück, was entfernt an ein Ei erinnert. Da stellt sich die Frage: Versteht