Unser Kosmos. Andere Welten.. Ann Druyan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ann Druyan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783955593032
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Maßstab, die sich auf den gesamten Planeten auswirkte und schließlich auch auf andere. Die größte Zelle des Menschen, das Ei, sieht man mit bloßem Auge kaum. Die kleinste, die Spermazelle, ist zu klein dazu. Doch im Kern fast jeder Zelle befindet sich eine codierte Botschaft aus drei Milliarden Basenpaaren oder Sprossen, die gewundene Leiter der Doppelhelix.

      Das Schicksal des Planeten wurde durch ein Ereignis auf einer einzigen Sprosse verändert, das nur 13 Atome betraf. Wie klein sind 13 Atome? Sie sind zusammen eine Billiarde Mal kleiner als ein Salzkorn. In der DNS eines unserer Vorfahren fand vor einigen Millionen Jahren eine Mutation statt, und das sorgt zum Teil dafür, dass Sie gerade diese Worte lesen können.

      Jegliches Selbstwertgefühl, alles, was wir lernen und herstellen, ist das Ergebnis dieser Änderung an einem Basenpaar eines einzelnen Gens, an einer Sprosse einer Leiter mit drei Milliarden Sprossen. Sie ließ den Neocortex wachsen und sich noch stärker falten. Vielleicht legte ein kosmischer Strahl zufällig den Schalter um, oder es war ein Übertragungsfehler von einer Zelle zur anderen. Was immer zu dieser Veränderung unserer Art führte, die sich schließlich auf alle anderen Arten dieser Erde auswirkte: Es geschah kurz nach dem Abendessen am Silvestertag unseres Kosmischen Kalenders.

      So gesehen beruht unsere Fähigkeit zur Loyalität und zur Sorge um zunehmend größere Gruppen, die Fixierung auf bestimmte Glaubenssysteme, die Möglichkeit, uns die Zukunft vorzustellen, die Macht, die Welt zu verändern und im Kosmos Antworten zu suchen – schon der Name, den wir unserer Art gaben, Homo sapiens, lateinisch für »verstehender Mensch« – vielleicht lediglich darauf: eine einzelne Sprosse in der mikroskopisch kleinen Leiter zu den Sternen.

      59 Minuten der letzten Stunde des Kosmischen Kalenders gehörten unseren Vorfahren, dem archaischen Homo sapiens, Jägern und Sammlern in kleinen Gruppen, die, wie Carl Sagan es formulierte, »nur durch Erde, Ozean und Himmel begrenzt waren«.

      Mich erstaunt, wenn Menschen achselzuckend alles auf »die menschliche Natur« schieben. Sie meinen meist Gier, Arroganz und Gewalt. Doch wir sind seit einer halben Million oder mehr Jahren Menschen. Und meistens waren wir nicht so. Woher wir das wissen? Durch die Berichte von Forschern und Anthropologen, die Jäger-Sammler-Gesellschaften seit Jahrhunderten begegnen. Es gibt natürlich Ausnahmen. Krisen haben schon immer das Schlechteste in uns zum Vorschein gebracht. Doch alle stimmen überein, dass die Menschen relativ harmonisch miteinander und mit der Umwelt lebten.

      Wir teilten das wenige, was wir hatten, denn wir wussten, dass unser Überleben von der Gruppe abhängt. Besitz über das Nötige hinaus bedeutete uns nichts, denn er war auf der Wanderschaft nur Last. Wir begannen uns von unseren Primatenvorfahren mit ihren um Dominanz kämpfenden Alphamännchen zu unterscheiden. Es gibt Hinweise darauf, dass Geschlechtergleichheit herrschte und die Ressourcen gerecht geteilt wurden. Die meisten Gesellschaften handelten im Bewusstsein, dass sie einander brauchen.

      Die höchste Tugend unter unseren Jäger-Sammler-Vorfahren war Demut, als hätten unsere Vorfahren erkannt, dass ein überheblicher Jäger eine Gefahr für die Gruppe bedeutete. Wenn er mit seiner Beute zu Hause angab, dann wurde behauptet, das Fleisch sei zäh und schmecke nicht. Wenn das sein Verhalten nicht änderte, dann griffen sie zur schlimmsten Sanktion – sie isolierten ihn. Was er auch tat, sie verhielten sich, als gäbe es ihn nicht.

      (Manchmal frage ich mich, ob nicht ein ritualisiertes Echo aus uralten Zeiten in uns fortwirkt, wenn wir jemanden zur Berühmtheit hochjubeln, sie oder ihn dann in Ungnade fallen lassen und schließlich aus dem öffentlichen Leben verbannen.)

      Und wo war Gott? Überall. In den Felsen, in den Flüssen, in den Bäumen, in den Vögeln, in allem Lebendigen. Das war eine halbe Million Jahre lang die Natur des Menschen.

      UM 23 UHR 52 AM SILVESTERABEND des Kosmischen Kalenders, oder vor einigen 100 000 Jahren, lebten in Afrika alle Vertreter der Gattung Homo sapiens – alle 10 000. Wenn ich höre, dass es von einer Art nur noch 10 000 gibt, dann mache ich mir um sie Sorgen. Hätte damals ein Außerirdischer auf einer Erkundungsmission die Erde besucht, hätte er vielleicht angenommen, wir wären eine bedrohte Art. Nun zählen wir Milliarden. Was ist passiert?

      In der Blombos-Höhle machten unsere Vorfahren einen gigantischen Sprung nach vorne, und vielleicht auch an vielen anderen, bisher unentdeckten Orten. Die Blombos-Höhle am Indischen Ozean an der Südspitze Afrikas ist unser ältestes Chemielabor und der früheste Beleg für eine der größten Anpassungsfähigkeiten unserer Art: die Fähigkeit, etwas aus der Umwelt für einen neuen Zweck zu verändern.

      

      Das erste Kunstwerk? Dieses Ockerstück aus der Blombos-Höhle in Südafrika ist das bisher älteste Artefakt menschlicher Kultur. Es wurde vor etwa 70 000 Jahren bearbeitet.

      

      Eine Höhlenmalerei in der Nähe von Valencia in Spanien, entstanden um 5000 v. Chr., zeigt eine menschliche Gestalt, die mit einem Rauchtopf Bienen vertreibt, um ihnen den Honig zu stehlen. Der Künstler nutzte zur Darstellung des Bienenstocks ein Loch in der Wand.

      In der Höhle fanden sich Mischtiegel aus Gehäusen von Meeresschnecken, Speerspitzen, Gerätschaften zur Verarbeitung von Ocker, gravierte Knochen, harmonisch zusammengefügte Perlenstränge, Eierschalen von Schildkröten und Straußenvögeln und feines Werkzeug aus Knochen und Stein. Wer waren diese ersten Chemiker? Wir. In der Blombos-Höhle wurden bis jetzt keine Knochen, nur sieben menschliche Zähne gefunden. Sie zeigen uns, dass uns diese Menschen anatomisch glichen. Und nicht nur anatomisch.

      70 Gehäuse von Meeresschnecken in ähnlicher Größe und Farbe und mit einem Loch an derselben Stelle zeugen von regelrechter Perlenproduktion. Die Blombos-Menschen experimentierten mit einem eisenreichen Mineral: Ocker. In Abalone-Schalen mischten sie den Ocker mit Tierknochenmehl und Holzkohle und formten daraus längliche Klötzchen. Damit hätte man Dinge oder Menschen mit roten Farbtupfen schmücken oder Tierhäute konservieren, es für medizinische Zwecke, zum Schärfen von Werkzeugen oder vielleicht als Insektenschutzmittel verwenden können.

      Tatsächlich kam etwas – nach unserer Kenntnis – völlig Neues ins Spiel. In den Ocker ritzte man ein geometrisches Muster ein. Kunst. Kein Mittel zur Verteidigung, zur Nahrungsgewinnung oder um einem Gefährten zu gefallen. Symbolträchtig oder zufällig: Die charakteristischen Kreuzschraffuren ähneln einer Leiter oder einer … Doppelhelix. Es ist das früheste Artefakt menschlicher Kultur. Man hatte eine Methode gefunden, etwas Menschliches zu hinterlassen. Ein Kommunikationsmittel, so rätselhaft es 70 000 Jahre später auch wirkt. Hier in der Blombos-Höhle entstand etwas sehr Machtvolles.

      In den Zehntausenden Jahren danach brachen einige unserer Vorfahren aus Afrika auf, um den Planeten zu erkunden, und hinterließen Belege für ihren Wunsch, dass man sich an sie erinnern möge. Ein besonders denkwürdiges Zeugnis menschlicher Geschicklichkeit ist in Spanien in den Cuevas de la Araña (Spinnenhöhlen) nahe dem heutigen Valencia zu sehen. Eine menschliche Gestalt klettert ein Seil oder eine Leiter empor, um mithilfe eines Rauchtopfs den Honig aus einem Bienenstock zu plündern. In der Literatur geht man davon aus, dass es ein Mann sei, was vermutlich nur ein Relikt aus jener Zeit ist, als Mensch und Mann gleichgesetzt wurden. Ich finde, das Bild des Honigdiebs spricht eher für eine Frau.

      NUR EIN PAAR TAUSEND JAHRE ZUVOR hatten die Menschen überall auf der Welt etwas entscheidend Neues entdeckt. Statt zu jagen, nach Nahrung zu suchen und den wandernden Herden zu folgen, lernten sie, Nahrung anzubauen und wilde Tiere zu zähmen. Das änderte alles. Unsere Vorfahren taten einen entscheidenden Schritt: Sie ließen sich nieder und bauten Häuser. Sie erfanden neue Werkzeuge – Technologie –, pflanzten und ernteten auf der eigenen Scholle. Die Beziehungen zur Natur und untereinander änderten sich für immer.

      Die neolithische Revolution, die Domestikation von Pflanzen und Tieren, ist die Mutter aller Revolutionen, denn alle anderen lassen sich darauf zurückführen. Die Konsequenzen