Hat ein Käfer Verstand? Hat die Evolution, die so viele verschiedene Käferarten hervorbrachte, völlig dabei versagt, ihre Entscheidungsfähigkeit, ihr Denken und ihre Emotionen zu schärfen? Oder ist ein Käfer nur ein Roboter, dessen DNS-Chips ihm jegliches Potenzial für Originalität, Spontaneität oder Improvisation rauben? Sind auch wir so?
In jedem dieser Fälle scheint die DNS-Codierung das Handeln der Tiere zu steuern. So gesehen könnte man die Annahme bejahen, dass Bienen, Käfer und sogar Gänse Maschinen ohne Verstand sind. Doch was ist mit uns, dem Tier Homo sapiens?
Das ist die Art von Frage, über die ein junger französischer Soldat an einem frostigen Abend im November 1619 grübelte, als er die Nacht in einem überheizten Zimmer in Bayern verbrachte. Er ging ins Bett, löschte das Licht – und konnte nicht schlafen. Gedanken quälten ihn und ließen ihn nicht los. Jahre später behauptete er, der Heilige Geist sei in ihn gefahren und hätte ihm eine neue Art des Denkens offenbart. Als er sie begriffen hatte, suchte er Wege, sie mit anderen zu teilen.
Der junge Mann war René Descartes. »Cogito ergo sum« – »Ich denke, also bin ich«, ist seine bekannteste Aussage. Die Idee, die ihn in dieser Nacht überkam, wurde für die moderne Zivilisation maßgebend. Seine Aufgabe sei, so Descartes, die Philosophie mit der Wissenschaft zu vereinen. Um zu wissen, was real ist, muss man eine Idee durch die exakten Techniken der Wissenschaft überprüfen und eine mathematisch auszudrückende Bestätigung suchen.
Der Kern von Descartes’ Ideen ist ein Merkmal der modernen Welt: Zweifel. Wie radikal muss seine Idee im frühen 17. Jahrhundert gewirkt haben! Galileo war wegen seiner mathematisch verifizierbaren Beobachtung, dass sich die Erde um die Sonne dreht, gerade verurteilt und eingesperrt worden! Seit 1000 Jahren kontrollierte die Kirche erfolgreich den öffentlichen Diskurs. Es gab keine Debatte über die wörtliche Auslegung des Alten und Neuen Testaments. Der Glaube stand nicht infrage; für Zweifel gab es keinen Raum. Doch Descartes sah im Zweifel den Ausgangspunkt für Wissen.
Descartes war kein Atheist – zumindest nicht öffentlich. Er bestätigte wiederholt die Existenz Gottes und glaubte, dass nur Menschen unsterbliche Seelen haben. In Bienen, Motten und Käfern sah er nur kleine Maschinen. Uhren waren zu dieser Zeit noch etwas Besonderes – der neueste Stand der Technik. Für Descartes waren Insekten und andere Wesen so elegant und effizient wie ein Uhrwerk, ein seelenloser Mechanismus.
Heute verschieben wir mit Descartes’ Prinzip des Zweifels die Grenzen immer weiter. Machen wir einen Schritt vorwärts und fragen, ob andere Tiere denken. Treffen sie Entscheidungen? Was würden sie sagen? Die Gänsemutter rollt irrtümlich einen Ball in das Nest zu den Eiern, aber sobald die Küken schlüpfen, zeigt sie eine einzigartige Verbundenheit mit ihnen. Ihr Geruch, der Klang ihres Piepsens, ihr Aussehen – nur diese Kombination von Eigenschaften weckt ihr mütterliches Interesse. Sie würde sie nie mit einem Ball oder gar mit anderen Küken verwechseln – welche Intelligenz! Wir hingegen, die wir uns selbst sapiens, »weise«, nennen, tun uns schwer, zwei Bruten von Küken auseinanderzuhalten.
Zurück zum Käfer, einer kleinen Kreatur mit einem ganzen Repertoire an Fähigkeiten. Er besitzt die komplette Palette an sensorischen und reproduktiven Fähigkeiten. Er kann laufen, fliegen und reagiert auf seine Umgebung: Wenn man auf ihn zugeht, richtet er sich auf oder flieht. So winzig er auch ist, er besitzt doch Fähigkeiten und spezialisierte Organe, um all das zu vollbringen.
Wenn man über Bewusstsein bei Insekten spricht, werden viele Wissenschaftler nervös. Dafür gibt es einen guten Grund: unsere Neigung, andere Arten zu vermenschlichen. Aber vielleicht haben wir das überkompensiert. Mein Gefühl ist, dass die Grenze zwischen Roboterprogrammierung und dem Bewusstsein eines Käfers weniger scharf scheint, als wir glauben. Der Käfer entscheidet, wann er Nahrung zu sich nimmt, vor wem er wegläuft, wen er sexuell attraktiv findet. Spricht das nicht für ein gewisses Bewusstsein in seinem winzigen Gehirn?
Die Bedeutung der Frage reicht weit über das Schicksal dieses Käfers hinaus. Wenn er nach sorgfältiger Abwägung noch immer roboterähnlich wirkt, weil seine Überlebensfunktionen durch DNS programmiert sind, wie sicher können wir dann sein, dass das nicht auch auf uns zutrifft? Und wenn wir bereit sind, die Handlungen von Menschen als von der DNS bestimmt zu sehen, als in unserer Natur angelegt, wo bleibt dann der freie Wille? Wie können wir dann von Gut und Böse sprechen? Geht es uns dann besser als den Zoroastriern, die glaubten, dass mit Ahura Mazda und Ahriman unkontrollierbare Kräfte ihr Verhalten bestimmen? Gibt es dennoch Hoffnung, dass wir unser Handeln und Schicksal selbst gestalten können – nicht durch Gene, sondern durch unsere Ideale gesteuert?
EINE GESCHICHTE GIBT MIR HOFFNUNG. Es ist die Sage vom Menschen, der sich extrem gegensätzlich verhielt. Was davon wahr ist, ist schwer zu beurteilen. Die Wirren eines Religionskriegs trüben den Blick auf sein Leben und verdunkeln die Wahrheit. Generationen versuchten, die Lebensgeschichte dieses Mannes und alles, was er schrieb und baute, aus der Geschichte zu tilgen. Trotzdem erinnert man sich noch an ihn. Was sind aber Geschichte oder Mythos, wenn Träume Karten sind?
Etwa 200 Jahre nach Zarathustra, im 4. Jahrhundert v. Chr., kam ein junger Mann aus der tiefsten Provinz, aus Mazedonien und errichtete in weniger als einem Jahrzehnt ein Reich, das sich von der Adria bis über den Indus hinaus nach Indien erstreckte. Auf seinem Weg zerschlug Alexander der Große die angeblich unbesiegbare Armee der Perser. Die Unterwerfung des Reiches der Achämeniden, des größten, das es jemals gab, weckte den Appetit auf weitere Eroberungen: Indien lockte.
Nachdem er das heutige Pakistan und ein Stück vom Nordwestens des Subkontinents erobert hatte, rebellierten 324 v. Chr. seine Männer. Ihr Hunger auf ein Reich war nicht so groß wie der Alexanders, zudem hatten sie Heimweh. Daher packten sie ihre Sachen und gingen. Nach ihrem Abzug beschloss der Hindu-Krieger Chandragupta, sich selbst an einer Reichsgründung zu versuchen. In nur drei Jahren schuf er das Maurya-Reich, das schließlich den größten Teil des nördlichen Indien und das heutige Pakistan umfasste.
Seleukos I. Nikator, ein Gefolgsmann Alexanders, meinte, er könnte dort Erfolg haben, wo sein zwischenzeitlich verstorbener Befehlshaber gescheitert war. Er überquerte mit einer Armee den Indus und griff Chandragupta an. Aber der Feldzug war ein Desaster. Seleukos erkannte bald, dass eine Ehe, die Chandraguptas Familie mit seiner verbinden würde, weitaus vernünftiger war. Die Allianz wurde mit der Schenkung Hunderter von Elefanten und allerlei Aphrodisiaka gefestigt und legte den Grundstein für einen dauerhaften Austausch zwischen Indien und Griechenland.
Chandragupta erwies sich als exzellenter Verwalter. Er ließ große Bewässerungsanlagen und moderne, mit Metall armierte feste Straßen bauen, die sein Reich für Handel und Truppen erschlossen. Auf Chandragupta folgte sein Sohn Bindusara, dessen Herrschaft aber nur eine Übergangszeit zwischen zwei Giganten darstellte.
Einigen Berichten zufolge hatte Bindusaras Sohn, der um 304 v. Chr. geborene Ashoka, durch eine Krankheit in seiner Kindheit eine pockennarbige Haut. Bindusara sei davon abgestoßen gewesen und habe ihn vom Hof verbannt. Vielleicht dient diese Geschichte aber nur zur psychologischen Erklärung für die späteren monströsen Verbrechen Ashokas.
Als Bindusara starb, brach unter den Söhnen seiner vielen Frauen der Kampf um den Thron aus. Um ihn zu erlangen, ermordete Ashoka, je nach Quelle, zwischen einem und 99 seiner Brüder. Wenn wir zugunsten Ashokas annehmen, dass er nur einen Brudermord beging, so war dieser doch von ungeheurer Grausamkeit: Ashoka stieß seinen Bruder in eine lodernde Feuerstelle.
Dies wird zum Markenzeichen der Herrschaft Ashokas: Es reicht nicht aus, den Feind zu vernichten, er muss dabei auch unvorstellbare Qualen erleiden. Es beginnt damit, dass Ashoka in das Zimmer seines sterbenden Vaters stürmt. Bindusara will einen anderen Nachfolger, vermutlich den Sohn, den Ashoka in den Feuertod stößt. Der verhasste Sohn steht vor dem sterbenden Vater, trägt die Insignien des Herrschers und erklärt verächtlich: »Jetzt bin ich der Herrscher!« Laut einigen Berichten wird Bindusara rot vor Zorn, sinkt auf sein Kissen