Bestes Handwerk in deftig und delikat: In der Boulangerie Du Pain et des Idées von Christophe Vasseur lohnt sich das lange Anstehen, um eines der frisch gebackenen Brote zu ergattern. Genauso wie der Weg hinaus nach Vincennes zum Chocolatier Julien Déchenaud.
Erst zart und dann, zack, voll auf die Zwölf: Während der Fisch im L’Assiette in einer ätherischen Leichtigkeit auf dem Teller schwimmt, ist das hausgemachte Gänserillette von einer herrlich wohligen Deftigkeit.
VON SUPPENKÜCHEN UND MIGRANTEN
Das Innungswesen im Frankreich war damals ein verflucht restriktives. Für jede Art von Speise gab es eine Zunft. Damit war nicht zu spaßen. Und in einem table d’hôte einzukehren, beim traiteur also oder beim rôtisseur, war weder ein geschmackliches noch gesundheitliches Vergnügen. Erst mit der Enthauptung des Adels und der Aufhebung des Zunftrechts für Bewirtung waren ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Wege für ein neues Phänomen geebnet: das Restaurant. Ursprünglich waren es eine Institution für gut situierte Feingeister, deren mentale und körperliche Gesundheit durch Brühen im ursprünglichen Wortsinn restauriert werden sollte. Doch viel wichtiger: Erstmals war es möglich, aus einer Karte zu wählen, anstatt ein gesetztes Menü essen zu müssen. Man saß nicht mehr an den heute wieder in Mode kommenden Community-Tischen mit Krethi und Plethi und man konnte es den ganzen Tag über tun. Und das kam dem aufkommenden Bürgertum gerade recht.
Was Herr Boulanger 1765 mit seinem sogenannten ›Restaurant‹ anzettelte, brachte 100 Jahre später mit dem Eintreffen vieler Flüchtlinge aus Elsass-Lothringen ein weiteres gastronomisches Novum nach Paris: die Brasserien. Was übersetzt so viel wie Brauerei bedeutet und im Wesentlichen Bierwirtschaften waren, die rustikale Hausmannkost für kleines Geld anboten. Nicht nur schnelle Kleinigkeiten auf die Hand wie in einem Bistro, und im Gegensatz zu Restaurants wurde hier nicht nur in einem Salat herumgestochert und über die Nachbartische gelästert, sondern richtig zugelangt – und zwar weit weg von Low Fat. Gegrillter Schweinefuß, fettiges Entenconfit oder Bismarckhering mit Mayonnaise. Das deftige Elsass grüßt genüsslich schmatzend. Im Laufe der Zeit schlichen sich dann weitere, teils elegantere Regionalküchen wie die der Provence oder der Bretagne mit ein.
Drei legendäre Brasserien – das Bofinger, die Brasserie Flo und das Lipp – sind bis heute Fixpunkte der Pariser Gastro-Szene. Um die ich allerdings einen Bogen mache. Einen weiten. Sie sind mittlerweile geldmachende Touristenfallen, doch in ihren Hochzeiten, den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts, waren sie der Treffpunkt für die Hautevolee und Künstler. Im Lipp etwa, der „Kantine von ganz Saint-Germain“, saßen dicht gedrängt Politik, Polemik und Poesie bei Bier und Pastete. Dabei waren die großen Brasserien niemals von namentlich erwähnten Köchen geprägt, sondern stets stand der Name der Brasserie im Vordergrund.
Heute würde man sagen, dass das Konzept größer sein muss als der Küchenchef. Seit Anfang des Jahrtausends ist nun eine neue Generation eben dieser dabei, die Brasserie neu zu definieren. Mit dem Kunstwort „Bistronomie“ des Restaurantkritikers Sébastien Demorand wird seit 2004 die revolutionierte Brasserie-Küche synonymisiert. Und die verbandelt das stilisierte Entweder-oder von hochfeiner Haute Cuisine mit der schlichteren Küche der Hausmannskost. Heraus kommt dabei eine Liaison aus Wohlfühlessen in handwerklich höchster Präzision mit süffigem Geschmacksbild: deutlich schlanker, experimentierfreudiger als die traditionelle Brasserie-Küche und auch offen für kraftvolle und exotische Aromen der ehemaligen Kolonien und des Maghreb.
Dennoch orientieren sich die Küchenchefs nach wie vor an den mehrheitsfähigen Brassiere-Klassikern der Vergangenheit, was zu einem Potpourri aus verbürgerter Spitzenküche und globaler Regionalität führt. Die britischen Nachbarn nennen es Casual Fine Dine. Man kocht groß auf, aber der Rahmen ist deutlich schlichter.
DES SCHURKENS FLEISCHLICHE SÜNDEN
David Rathgeber ist einer dieser Enfants terribles und sein L’Assiette in der Rue du Château ein Paradebeispiel für die Emanzipierung der modernen Brasserie-Küche. Was er als Cuisine Canaille bezeichnet, als Schurkenküche. Das spricht mich als Kreuzberger Junge ja direkt an. Die eigentliche Küche hat kaum mehr als sieben Quadratmeter, doch aus der feuert David grandios bodenständige Gerichte in exzellenter Qualität raus. Weniger feingeistig als Cyril Lignac, dafür mit richtig Schmackes. Die Aromenkeule trifft mich bei dem hausgemachten Cassoulet Maison mit aller Wucht. Unscheinbar in einem gusseisernen Topf serviert, öffnet sich mir ein Himmelreich der fleischlichen Verlockung: Lammnacken, confierte Entenschenkel, Schweinebrüstel und derlei mehr sublimieren sich zu einem deftigen, alle Sinne berauschenden Defilee. Und plötzlich schwingen meine Synapsen im punktierten Marschrhythmus der Marseillaise und am Gaumen erschmecke ich ein neues Gericht für die Brasserie Colette …
TIM RAUE
» David Rathgebers Cuisine Canaille ist ein Paradebeispiel für die Emanzipierung der modernen Brasserie-Küche. Diese sogenannte Schurkenküche spricht mich als Kreuzberger Junge ja direkt an. «
KLASSIKER DER BRASSERIE-KÜCHE
Diese Gerichte kommen traditionellerweise auf den Tisch
Der französischste aller Eintöpfe, der umso besser wird, je länger er auf dem Herd köcheln darf.
Legendäres Winteressen und der Traditionseintopf des Südwesten Frankreichs vereint alles, was satt macht und nicht zu teuer ist.
Die Ikonen Frankreichs, nämlich Rotwein und Hahn, in perfekter Verbindung. Kräftig und deftig!
Maritimes Kleinod in einer großen Schüssel. Und der Weißweinsud wird genüsslich mit den dick geschnittenen Pommes aufgetunkt …
Mit einem guten Schluck