Und je länger Eryn darüber nachdachte, desto überzeugter wurde er, dass derartige Experimente gar nicht so gefährlich waren, wie er zunächst geglaubt hatte. Nach einer Weile stand sein Entschluss fest: Er würde es wagen.
Doch die Vorsicht darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Ich werde mir einen verlassenen Strand suchen. Dort, wo die Flut über den Sand spült und alle Spuren verwischt.
Sein Weg führte ihn nach Süden an eine felsige Küste, wo sich weit und breit kein menschliches Wesen aufhielt. Nur ein paar Möwen hatten in den zerklüfteten Felswänden ihre Nester gebaut und flogen auf der Suche nach Beute in Richtung Meer hinaus. Sie kreisten am Himmel und stießen ihre hässlichen Schreie aus. Eryn stand auf felsigem Untergrund und keine drei Schritte von ihm entfernt klatschten die Wellen gegen den Stein. Wenn eine größere Welle heranrollte, kam das Wasser bereits bis zur Hälfte des Plateaus, bevor es sich wieder zurückzog. Durch eine dunklere Färbung grenzte sich die überspülte Fläche deutlich von dem noch trockenen Bereich ab. Eryn ging nach vorne, bis er auf feuchtem Grund stand, dann öffnete er ein Tor.
Die folgenden Stunden verbrachte er mit unzähligen Versuchen und gewann erste Erkenntnisse.
Zurück auf seiner Insel machte er Aufzeichnungen und entwickelte Theorien. So vergingen die nächsten Tage und die anfänglichen Erfolge verschafften ihm ein Hochgefühl. Vor allem in jenem Moment, als es ihm gelang, die Haut der Wege so dünn über sich zu ziehen, dass er das Schreien der Möwen von draußen hören konnte. Zwar nur sehr gedämpft, doch es waren eindeutig Laute aus der realen Welt. Auch seine Sicht nach draußen war nun so scharf, als würde er durch eine klare Glasscheibe blicken. Sein Ehrgeiz beflügelte ihn dazu, eine weitere Theorie zu testen. Er versuchte, anstelle der dünnen Haut, die Magie in eine netzartige Struktur umzuwandeln. Doch dieses Netz war so empfindlich, dass es schon bei der leichtesten Bewegung auseinanderriss. Schließlich gab er diese Versuche mit einem Schulterzucken auf.
Die dünne Haut ist gut genug und ich bin in ihrer Handhabung so sicher, dass einem weiteren Besuch in Naganor nichts mehr im Wege steht.
Mittlerweile war es später Nachmittag und Eryn hoffte, Gannok draußen beim Spielen mit den anderen Kindern anzutreffen. So war seine erste Anlaufstelle der Hof. Aber weil es in Naganor regnete, befand sich niemand draußen. Darum trieb er weiter, bis er den Flur vor dem Zimmer der Kinder erreicht hatte, und dort fand er sie. Gannok stand mit ausgebreiteten Armen im Gang und versuchte die anderen Kinder am Vorbeikommen zu hindern. Es gelang ihm, Danian zu packen, während Asran und Carmina laut schreiend vorbeirannten. Da Danian gefangen worden war, war er als Nächster an der Reihe, nun die anderen aufzuhalten. Eryn zog sich ganz an das Ende des Flures zurück. Hier konnte er den Kindern bei ihrem Spiel ein wenig zusehen und natürlich wollte er sie auch hören. Mit der nötigen Vorsicht näherte er sich immer weiter der Barriere und dehnte sie dann vorsichtig aus. Dann kam der Moment, da er die spielenden Kinder hören konnte. Das war gar nicht so schwierig, denn sie schrien noch um einiges lauter als die kreischende Möwenschar.
„Bäh, kriegst mich nicht!“, spottete Asran und Danian forderte ihn heraus:
„Blödmann, Blödmann! Komm doch!“
„Ich renn jetzt los!“, zog Gannok die Aufmerksamkeit auf sich und machte dann einen Rückzieher: „Haha, oder doch nicht.“ Während Carmina die Gelegenheit nutzte und ihrerseits losspurtete.
Keine besonders intellektuelle Unterhaltung, urteilte Eryn nüchtern. Aber was konnte man von Kindern schon anderes erwarten. Allerdings freute er sich, dass alle zusammen so viel Spaß hatten.
Nun rannten auch Asran und Gannok los, und weil sie beide im letzten Moment an derselben Seite vorbeihuschen wollten, stießen sie zusammen und fielen hin. Danian nutzte seine Chance und warf sich noch oben drauf. „Hab euch! Alle beide! Ich bin der Sieger!“
Doch die zwei größeren Jungs schenkten ihm keine Beachtung, sondern beschimpften sich gegenseitig, während sie sich wieder aufrappelten. Danian jedoch gab nicht nach und schrie nun aus vollem Halse:
„Ich bin der Sieger und jetzt darf ich sagen, was gespielt wird! Wer zuerst unten bei der Tür ist, hat gewonnen!“ Dann rannte er auch schon los und die anderen setzten ihm nach.
Eryn wollte ihnen folgen, da passierte es. Die Haut zerriss und er stand plötzlich leibhaftig im Flur. Scheiße! Dabei waren die Kinder noch sein geringstes Problem, denn die rannten gerade um die Ecke herum, ohne dass sie einen Blick zurückwarfen.
Aber nach seinem ersten Fehler, machte Eryn gleich einen zweiten. Instinktiv riss er nämlich seine Schilde hoch. Ich Idiot, wenn der Alarm vorhin noch nicht ausgelöst worden ist, dann ist er jetzt mit Sicherheit losgegangen. Irgendwie erwartete er, gleich Prinz Raidens Stimme zu vernehmen. Doch bis der Herr von Naganor persönlich hier herüberkam, würde es ein paar Minuten dauern, und darum beschloss Eryn, erst einmal zu scannen, bevor er sich anschließend durch ein Tor in Sicherheit bringen würde. Der Sicherheitszauber offenbarte sich seinem magischen Auge. In stetig ungestörtem Fluss strömte er dahin und das war verwunderlich.
Nanu, der Alarm scheint gar nicht ausgelöst worden zu sein. Dann entdeckte er den kleinen Teil des Musters, welches seine Aura in den Sicherheitszauber mit einbezog und musste erleichtert lachen.
Bei den Göttern, er hat den Schutzzauber gar nicht modifiziert und somit habe ich zumindest hier immer noch uneingeschränkten Zugang, ohne dass der Alarm gleich losgeht. Heute sind Seiner Hoheit Vergesslichkeit und seine überaus große Schlampigkeit einmal meine Verbündeten.
„Wer als Erster oben ist!“, hörte man die Kinder von unten schreien und damit war es für Eryn höchste Zeit sich zurückzuziehen. Das tat er zunächst ganz unmagisch und verschwand durch die nächste Tür hinein in eine kleine Abstellkammer. Die war mit allerlei Putzsachen vollgeräumt und ein muffiger Geruch nach feuchten Lappen schlug ihm entgegen. Als er die Tür hinter sich zuzog, ließ nur noch ein dünner Spalt unter der Tür einen schmalen Streifen Tageslicht herein. Eryn blieb stehen, nur um nicht versehentlich über etwas zu stolpern.
Der Ort ist ideal. Im Gang draußen könnte doch mal jemand ein magisches Auge öffnen und nach verdächtigen Spuren suchen. Aber hier drinnen sucht sicherlich keiner nach den Überresten eines Tores, zumindest nicht Prinz Raiden. Was würde der auch mit Putzutensilien anfangen wollen, hähä. Dieser Platz gehört mit Sicherheit zu den Orten, die er üblicherweise meidet.
Dann kehrte Eryn auf seine Insel zurück.
Dass meine magische Aura noch mit dem Sicherheitszauber verwoben ist, macht alles erheblich einfacher. Denn nun weiß ich ziemlich genau, welche Zauber ich weben kann, ohne dass es von irgendjemandem bemerkt wird.
Fortan machte er täglich einen Abstecher nach Naganor, um Gannok heimlich zu beobachten. Doch von der Idee, den Jungen zu sich auf die Insel zu holen, nahm er Abstand.
Hier wäre er ganz alleine. Nun nicht gänzlich alleine, denn ich wäre ja bei ihm. Aber er hätte keine anderen Kinder zum Spielen. Später, wenn er älter ist, kann ich ihn immer noch herholen. Dann wird er das auch besser verstehen. Es ist nicht so, dass ich ihn im Stich lasse – ich raube ihm nur nicht seine glückliche Kindheit.
Gerade in diesem Moment wurde ihm sein ganzes Elend bewusst. Die nächsten Jahre über war er dazu verdammt, sein Leben in Heimlichkeit und Einsamkeit zu verbringen.
Solange ich Ador nicht die Stirn bieten kann, muss ich mich verstecken.
Die Vorstellung war frustrierend, denn nicht einmal Prinz Raiden konnte Ador das Wasser reichen. Aber dann schüttelte Eryn das Gefühl des Selbstmitleids ab und riss sich zusammen.
Ich bin ein Magier und ich werde meine Zeit damit verbringen, ein noch besserer Magier zu werden. Ach was sage ich, ein verdammt guter Magier will ich werden. Es gibt so vieles, was ich erforschen kann. Zunächst werde ich weiter die Wege studieren. Das kann schließlich nicht jeder, denn die Ader Gold ist selten.