Auf der zweitgrößten Erhebung der Insel hatte Eryn noch einen Süßwassersee angelegt. Er diente zum Baden und generell als Wasserspeicher. Den Schutzwall um die Insel herum hatte er weiter vergrößert und auch sein Heim war inzwischen ganz gut eingerichtet und war durchaus wohnlich. Da gab es Tische, Kommoden und Schränke, allesamt von solider Bauweise und manche davon waren sogar verziert. Am Anfang hatte sich Eryn als Schreiner versucht, war aber mit dem Ergebnis nicht sonderlich zufrieden gewesen und so besorgte er sich die Güter aus der alten Welt. Er mied große Siedlungen und nahm sich nur Gegenstände, die verstaubt und vergessen auf Dachböden und in Scheunen herumstanden. Nichts, was jemand vermissen würde. In einem abgelegenen Landhaus machte er die reichste Beute. Auf dem Haus selbst lag ein Schutzzauber, weswegen er es unberührt ließ. Doch in dem Nebengebäude gab es eine ganze Kammer voller alter Möbel. Die Staubschicht lag so dick über allem, dass hier schon lange niemand mehr gewesen sein konnte.
Auf den Wagenzug der Meretts stieß er eher zufällig, als er nach weiterer Beute Ausschau gehalten hatte. Sein erster Gedanke war, sich gleich wieder zu entfernen, um nicht von den Menschen entdeckt zu werden. Doch dann hielt er inne und änderte seine Meinung.
Warum nicht. Die Meretts sind die reichsten und die schlimmsten aller Händler. Sie zu bestehlen, ist kein Verbrechen. Das ist ausgleichende Gerechtigkeit.
Die Wagen standen über Nacht in einem Kreis um das Lager herum und waren bewacht – doch nicht gut genug, um einen begabten Magier vom Sammeln abzuhalten. Und einmal angefangen, wollte Eryn gar nicht mehr aufhören, denn er konnte wirklich vieles aus dem dargebotenen Sortiment gebrauchen.
Nun saß er auf seinem bequemen, neu bezogenen Sofa und lachte in sich hinein.
Es ist nur recht und billig, wenn man einem armen Magier unter die Arme greift. Die Fenster hatten hübsche Vorhänge und auf dem Steinboden lagen Teppiche und Felle. Sein Bett hatte eine Matratze, und alle Decken und Kissen waren mit Daunenfedern gestopft. Im Kamin in der Wohnstube brannte ein richtiges Feuer und das Knistern der Holzscheite sorgte für eine wohlige Behaglichkeit.
„So lässt es sich leben“, meinte Eryn zufrieden. Allerdings, stehlen werde ich nun nichts mehr. Das ist einfach nicht recht ... Auch wenn es mit den Meretts keine Armen trifft. Außerdem wird jeder Dieb irgendwann einmal erwischt. Sie finden meine Spur, die Magier bekommen davon Wind und schon stehen ungebetene Gäste vor meiner Tür. Das wäre das Letzte, was ich gebrauchen könnte.
Somit war es an der Zeit, wieder redlich zu werden. Doch es lag nicht in seinem Naturell, träge vor dem Kamin zu sitzen und die Tage sinnlos verstreichen zu lassen. Aber es fehlte ihm an entsprechender Gesellschaft. Andere Menschen, mit denen er sich unterhalten konnte. Darum erfüllte ihn bald eine Unrast und er spielte mit dem Gedanken, seinen Sohn Gannok zu sich zu holen.
Er ist mein Sohn und ich habe ihn aus selbstsüchtigen Gründen zurückgelassen, um nach Elverin zu gehen. Das war nicht richtig. Das weiß ich jetzt, und ich habe bitterlich dafür gebüßt. Dafür hat schon mein eigener Vater gesorgt. Der Schöpfer – wie kann jemand nur so selbstherrlich sein. Heißt es nicht, mit dem Alter käme die Weisheit? Daran hege ich inzwischen große Zweifel. Doch die Fehler der Vorfahren müssen sich nicht wiederholen. Ich kann es weitaus besser machen als mein eigener Vater und Gannok mit Güte und Liebe erziehen.
Doch die Sache hatte einen Haken. Gannok befand sich in Naganor und der Schwarze Turm war gegen Magie gut gesichert – nicht so wie die Häuser der Unmagischen.
Eryn dachte lange über dieses Problem nach. Seine Angst vor Ador hatte sich inzwischen ein wenig gelegt, denn die magische Wolke der Wege war unendlich groß und er würde sich sicherlich nicht in die Nähe von Elverin begeben. Meister Raiden selbst war in der Tormagie nicht sonderlich bewandert, alleine schon deswegen, weil ihm die Ader Gold fehlte. So schlussfolgerte Eryn, dass der Herr von Naganor nur eine Gefahr für ihn werden könnte, wenn er aus den Wegen heraustrat. Das musste Eryn aber gar nicht. Wenn er nahe genug an die magische Barriere herantrieb, konnte er wie durch eine Scheibe hindurchsehen.
Also machte er sich auf nach Naganor und suchte in dem Nebengebäude nach den Kindern. Aber das Zimmer, in dem sie zu viert schliefen, war leer.
Vielleicht haben sie Unterricht oder spielen irgendwo draußen. Eryn glitt an der Barriere entlang, fast so, als würde er durch das Gebäude laufen. Er konnte sich inzwischen eine ganze Weile in den Wegen aufhalten, war aber ungefähr eine halbe Stunde verstrichen, wurde er nach draußen gezogen. Ähnlich einem Taucher, der zurück an die Wasseroberfläche schwimmen musste, um Luft zu holen. Diese Zeitspanne war schon deutlich länger als am Anfang und sicherlich würde er mit etwas Übung noch besser darin werden. Schließlich hatte Ador ganze fünfzig Jahre in den Wegen verbracht – wenn auch nicht freiwillig. Eryn verdrängte die unliebsamen Erinnerungen an Ador und schob die Grenze zur realen Welt vor sich her. Die Gesetzmäßigkeiten in den Wegen waren andere als draußen. Man konnte problemlos durch Wände und alle anderen Feststoffe wandern. Nur auftauchen sollte man nicht in solchen Materialien.
Gerade erreichte Eryn den Unterrichtsraum, der ebenfalls leer war. Doch im Hof wurde er dann fündig. Alle vier Kinder saßen in Eintracht nebeneinander. Danian warf seinem Raben Brotkrumen zu, welche dieser gezielt aufpickte, während Carmina ihre Katze streichelte, die wohlig brummend auf ihrem Schoß lag. Gannok spielte mit seinem Hund Flocke Stöckchen holen und war gerade dabei erneut zu werfen. Nur Asrans Bergkatze Fauchi war nirgends zu sehen. Das Bild war verschwommen und Eryn wagte sich noch ein klein wenig näher an die Grenze heran. Die Kinder redeten irgendetwas, dann schienen sie zu lachen. Aber Eryn konnte nichts hören.
Ob ich sie verstehen kann, wenn ich noch näher heranschwebe? Man konnte auch Zauber nach draußen schicken, aber die erregten mit Sicherheit Aufmerksamkeit. Und der Grenze noch näher zu kommen, barg das Risiko plötzlich hinausgezogen zu werden.
Naganor ist nicht der Ort, um dahingehend Experimente zu machen.
Also gab er sich im Augenblick damit zufrieden, den Kindern einfach nur zuzusehen.
Wenn ich Gannok zu mir hole, dann soll nicht gleich jeder wissen, dass ich es war. Meister Raiden hat sicherlich ein großes Interesse, dass ich als sein williger Untergebener zurückkehre. Ich würde ihm sogar zutrauen, dass er Ador ins Vertrauen zieht, damit der ihm bei der Mission ‚Eryn einfangen‘ auch noch behilflich ist. Aber Ador hilft nur sich selbst. Irgendwie erstaunlich, dass Meister Raiden das noch nicht selbst aufgefallen ist. Hat er doch sonst einen sehr gesunden Scharfblick für die Geschehnisse um ihn herum.
Carmina sagte etwas und Asran streckte ihr die Zunge heraus. Woraufhin sie aufstand und mit einem hochnäsigen Gesicht davonstolzierte. Gannok und Asran schienen sich darüber köstlich zu amüsieren, während Danian immer noch mit seinem Raben beschäftigt war.
Aber dann sagte Asran etwas zu Gannok und die beiden Buben fielen übereinander her und balgten sich.
Dieser Asran ist der Teufel, urteilte Eryn und war gleichzeitig auch ein wenig um Gannok besorgt. Aber die beiden schenkten sich nichts und dann war der Streit so schnell vorüber, wie er gekommen war und die Jungs kugelten sich vor Lachen.
Kinder und ihre Spiele, wer kann die verstehen?, wunderte sich Eryn, dann trat er die Rückreise an.
In den Wegen
Auch wenn Eryn in den nächsten Tagen noch vieles in seinem neuen Heim zu tun hatte, ging ihm der Gedanke an die Wege nicht mehr aus dem Kopf. Es reizte ihn herauszufinden, wie nahe er an die Barriere zwischen den zwei Welten tatsächlich herankommen konnte. Aber nicht nur die Arbeit hielt ihn davon ab, sondern auch eine gewisse Angst davor, dass Ador ihn eventuell aufspüren könnte.
Bisher bin ich nur für kurze Zeit auf Reisen gegangen, aber wenn ich experimentiere, dann würde ich mich über längere Zeit dort aufhalten müssen und vielleicht kann Ador meine Spuren finden. Verdammt, ich wüsste zu gerne, wozu er wirklich in der Lage ist. Gibt es überhaupt Spuren in den Wegen? Und wenn dem so wäre, wie schwierig ist es, diesen zu