Und hierin unterscheidet er sich von allen anderen Erwachten: die nämlich auf ihrer einsamen Höhe bleiben, wenn sie zur Erkenntnis gelangt sind. Nur Zarathustra hat sich wieder „nach unten“, zurück in die Menge begeben. Er muss der Menschheit unbedingt seine Botschaft überbringen … „Ihr leidet umsonst, seid umsonst abhängig, verkriecht euch in allen möglichen Gefängnissen, nur um euch in sicherer Obhut zu fühlen. Dabei besteht eure einzige Sicherheit, eure einzige Obhut in der Selbsterkenntnis; denn vor der ist sogar der Tod machtlos, kann selbst er euch nicht mehr zerstören …“
Zarathustra kehrt dem Gebirge den Rücken um den Menschen mitzuteilen, dass Weisheit nicht dasselbe ist wie Wissen, ja, dass Wissen genau das Gegenteil von Weisheit ist. Weisheit ist im Grunde Unschuld, Wissen ist Egoismus. Und Weisheit löscht den Egoismus aus. Wissen stopft euch den Kopf mit Informationen voll, Weisheit macht dich absolut leer. Doch diese Leere ist eine neue Fülle: Sie schafft Raum. Er geht zu den Menschen, um ihnen mitzuteilen, dass Weisheit sie befreit, dass es keine andere Freiheit gibt als sie – weder politisch noch ökonomisch noch gesellschaftlich – all diese Freiheiten trügen.
Die einzige authentische Freiheit ist eine Seele, die zum Adler werden kann und ohne alle Angst ins Unbekannte und Unerkennbare vorzustoßen vermag. Da er diesen Zustand des höchstmöglichen Bewusstseins erlangt hat, möchte er ihn nunmehr mit anderen teilen. Das Einmalige an ihm ist, dass er die Menschheit nach wie vor liebt. Mit keinem Wort verdammt er die schlafenden Menschen, die blinden Menschen, da spricht lediglich ein ungeheures Mitgefühl mit ihnen. Er steigt vom Gebirge herab, weil er das Leben liebt. Er ist nicht lebensfeindlich. Dieser kleine Wortwechsel mit einem alten Heiligen, der im Wald lebt, ist bedeutsam. Er enthält vieles, was man zwar nicht auf den ersten Blick erkennen mag, doch wir wollen versuchen, es so tief wie möglich aufzudecken.
Zarathustra stieg allein das Gebirge abwärts und niemand begegnete ihm. Als er aber in die Wälder kam, stand auf einmal ein Greis vor ihm, der seine heilige Hütte verlassen hatte, um Wurzeln im Walde zu suchen. Und also sprach der Greis zu Zarathustra: „Nicht fremd ist mir dieser Wanderer: vor manchem Jahre ging er hier vorbei. Zarathustra hieß er; aber er hat sich verwandelt.
Der alte Mann erkannte seine Verwandlung. Zwar ist dies derselbe Mann, doch seine Energie hat sich verändert. Es ist derselbe Mann, aber er ist durch und durch ein Verwandelter.
Als Unwissender war er ins Gebirge gegangen und kommt als Allerweisester zurück. Als Schlafender ging er ins Gebirge. Als Erwachter kehrt er wieder zurück. Er hat sich verwandelt.
Als er ins Gebirge ging, war er ein bloßer Sterblicher, und so, wie er aus dem Gebirge zurückkehrt, hat er die Unsterblichkeit erlangt. Nun ist er voller Freude, voller Frieden, strahlt nichts als Segen aus. Er strömt über von Liebe, von Mitgefühl.
Damals trugst du deine Asche zu Berge:
Du warst nur noch eine Leiche, und du trugst deine Asche zu Berge …
… willst du heute dein Feuer in die Täler tragen?
Er hat sich so radikal verwandelt, dass er jetzt nicht mehr Asche, sondern Feuer ist. Als eine Dunkelheit ging er hinauf, jetzt ist er eine Flamme.
Fürchtest du nicht des Brandstifters Strafen?
Dies ist ein wichtiger Hinweis. Der alte Heilige sagt: Hast du denn keine Angst, zu den Blinden zurückzukehren – sehenden Auges? Zu den Toten zurückzukehren – quicklebendig? Zu den Schlafenden zurückzukehren – hellwach? Als du von ihnen gingst, warst du einer von ihnen. Jetzt bist du völlig verändert. Findest du nicht, dass du deinen Hals riskierst? Sie werden dich bestrafen. Sie werden es dir heimzahlen. Deine Seligkeit überfordert sie – ist unerträglich für sie.
So seltsam es klingt, so wahr ist es: Wir können das Unglück anderer Menschen ertragen, wie tief es auch sei. Wir haben ein gewisses Vergnügen daran, wenn andere unglücklich sind. Denn wenn sie unglücklich sind, stehst du über ihnen, kannst du sie bemitleiden und dich über den Umstand freuen, dass du nicht so unglücklich bist. Folglich ist noch kein Mensch dafür gekreuzigt, dafür vergiftet worden, dafür zu Tode gesteinigt worden, dass er unglücklich war. Aber glückselig zu sein unter Unglücklichen, das ist gefährlich, denn damit überragst du sie, und das beleidigt sie. Du kannst sehen und sie nicht?! Das darf nicht sein. Sie sind tot, und du bist lebendig?! Das musst du büßen. Du erhebst dich über die Masse: Fürchtest du nicht ihre Strafe?
Ja, ich erkenne Zarathustra. Rein ist sein Auge, und in seinem Munde birgt sich kein Ekel. Geht er nicht daher wie ein Tänzer?
Die Augen sind sehr vielsagend. Sie gehören zwar zum Körper, sind aber auch die Fenster der Seele. Je stiller, friedlicher, freudiger eure Seele ist, desto tiefer, klarer, reiner, unschuldiger werden eure Augen. Sie werden so transparent, dass man mitten in die Seele des Betreffenden blicken kann.
Rein ist sein Auge, und in seinem Munde birgt sich kein Ekel.
Schaut den Leuten in die Augen – das ganze Leben widert sie an – und wer kann es ihnen verdenken? Was haben sie schon vom Leben? Ihr ganzes Leben ist nichts weiter als eine nicht enden wollende Tragödie, als eine Krankheit zum Tode. Sie atmen noch, sie leben noch, sie hoffen noch, aber diese Hoffnungen werden nur Hoffnungen bleiben. Nie werden sich ihre Träume erfüllen. Je älter sie werden, desto mehr sehen sie ihre Hoffnungen schwinden. Was Wunder, dass sie nur noch Ekel für dieses ganze Leben empfinden. Sie haben nicht darum gebeten geboren zu werden, sie haben nicht um ein Herz gebeten, das fühlen kann, das Wärme braucht, das Liebe braucht. Sie haben nie um eine Seele gebeten, die sich nach den höchsten Gipfeln der Freude und Ekstase verzehrt. Sie sind plötzlich da, und alles, was ihnen die Existenz verheißen hat, bleibt unerfüllt. Sie sind tief verbittert.
In seinem großen Roman „Die Brüder Karamasow“ lässt Fjodor Dostojewski, einer der bedeutendsten Romanciers der Welt, eine Figur sagen: „Meine Beziehung zu Gott beruht einzig und allein auf Ekel. Ich bin verbittert, und sollte er mir je begegnen, werde ich ihm nur die Fahrkarte zurückgeben und von ihm verlangen, mir den Ausweg aus dem Leben zu zeigen. Es ist ein grausamer Scherz. Er gibt uns nichts als Wünsche mit, nichts als Sehnsüchte mit … ohne die geringste Aussicht auf Erfüllung. Uns bleibt nicht einmal eine Hoffnung auf die Zukunft.“
Jeder kommt mit ungeheurem Enthusiasmus zur Welt, und jeder stirbt ganz einfach enttäuscht. Der alte Heilige sagt: „Jetzt sehe ich an ihm keine Spur von Ekel oder Qual mehr, sondern nur noch Ekstase. Er geht daher wie ein Tänzer. Als du ins Gebirge gingst, hast du dich mühsam dahingeschleppt, trugst du deinen eigenen Leichnam auf den Schultern.
Und jetzt …
… geht er nicht daher wie ein Tänzer?“
Er ist ein Verwandelter. Dieser Mann hat sich selbst erkannt. Dieser Mann hat aus der Quelle des Göttlichen getrunken.
Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra …
Das ist die größte Verwandlung im Leben des Menschen: wieder zum Kind zu werden.
Was willst du nun bei den Schlafenden?
Diese Frage stellen alle Heiligen der Welt – alle Buddhas, alle Mystiker, alle Erwachten: Du bist wieder Kind geworden, du bist erwacht – was suchst du noch bei den Schlafenden? Du bist ihnen absolut fremd. Sie werden dich bestrafen, sie werden dich vielleicht töten. Deine bloße Gegenwart bedroht ihren Schlaf, bedroht ihre Misere, bedroht ihre Blindheit.
Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich. Wehe, du willst ans Land steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen?
Hast du den Tag vergessen, da du ins