Neue Werte schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen.
Recht sich nehmen zu neuen Werten – das ist das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehrfürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und eines raubenden Tieres Sache.
Als sein Heiligstes liebte er einst das „Du-sollst“: nun muss er Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten finden, dass er sich Freiheit raube von seiner Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube.
Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es einen heiligen Jasagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.
Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele ward und zum Löwen das Kamel und der Löwe zuletzt zum Kinde.
… Also sprach Zarathustra.
Zarathustra unterteilt die Evolution des Geistes in drei Symbole: Kamel, Löwe und Kind. Das Kamel ist ein Lasttier – bereit, sich unterjochen zu lassen, nie rebellisch. Es kann nicht einmal Nein sagen. Es ist gläubig, servil, ein treuer Knecht. Das ist die unterste Schicht des menschlichen Bewusstseins.
Der Löwe ist eine Revolution. Die Revolution beginnt mit einem heiligen Nein. Im Bewusstsein des Kamels herrscht ständig ein Bedürfnis nach jemandem, der es führt, nach jemandem, der zu ihm sagt: „Das sollst du tun.“ Es bedarf der Zehn Gebote. Es bedarf all der Religionen, all der Priester und all der heiligen Schriften, weil es nicht sich selbst vertrauen kann. Es hat keinen Mut und keine Seele und keine Sehnsucht nach Freiheit. Es ist gehorsam. Der Löwe ist eine Sehnsucht nach Freiheit, ihn verlangt danach alle Gefängnisse einzureißen. Der Löwe braucht keinen Anführer, er ist sich selbst genug. Er lässt sich von keinem anderen sagen: „Du sollst“. Das beleidigt seinen Stolz; er kann nur sagen: „Ich will“. Der Löwe besteht aus Verantwortung und dem enormen Kraftakt, alle Ketten zu sprengen. Aber selbst der Löwe ist nicht der höchste Gipfel des menschlichen Wachstums. Der höchste Gipfel ist: wenn sich der Löwe verwandelt und zum Kind wird. Das Kind ist Unschuld.
Es ist weder Gehorsam noch Ungehorsam; es ist weder Glaube noch Unglaube, sondern ungetrübtes Vertrauen. Es ist ein heiliges Ja zur Schöpfung und zum Leben und zu allem, was es enthält. Das Kind ist die höchstmögliche Reinheit, Aufrichtigkeit, Authentizität, Empfänglichkeit und Offenheit für die Schöpfung.
Diese Symbole sind sehr schön. Wir werden untersuchen, was diese Symbole bedeuten, eins nach dem anderen, so wie Zarathustra sie beschreibt.
Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles Schwere gibt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem schweren und schwersten verlangt seine Stärke.
Zarathustra hat nichts für die Schwachen übrig, für die sogenannten Demütigen. Er teilt nicht die Ansicht von Jesus: selig sind die Schwachen, selig sind die Armen, selig sind die Demütigen, denn ihrer ist das Himmelreich. Zarathustra ist absolut für einen starken Geist. Er ist gegen den Hochmut, aber nicht gegen den Stolz. Stolz ist die Würde des Menschen. Hochmut ist eine falsche Größe, und man darf beides nie miteinander verwechseln. Hochmut ist etwas, das dich deiner Würde beraubt, das dich deines Stolzes beraubt; denn Hochmut ist auf andere angewiesen – auf die Meinung anderer, auf das, was die Leute sagen. Hochmut ist sehr anfällig. Die Meinung der Leute kann sich ändern, schon ist dein Hochmut wie weggeblasen.
Da fällt mir Voltaire ein, ein großer Denker. Zu Voltaires Zeiten war es in Frankreich Sitte, ein uralter Aberglaube, dass jeder, der es schafft, einem Genie irgendetwas abzuluchsen, und sei es nur ein Stück Stoff, leichter seine eigenen Talente entdeckt, wenn nicht gar selbst zum Genie wird. Voltaire war als großer Denker und Philosoph berühmt und verehrt, dass er sogar bei seinem Morgenspaziergang Polizeischutz brauchte und auch wenn er verreisen wollte oder zur Postkutsche ging …
Der Polizeischutz war nötig, weil sich immer Volk um ihn drängte und anfing an seinen Kleidern zu zerren. Es kam vor, dass er fast nackt nach Hause kam, am ganzen Leib zerkratzt und blutig … So machten ihm sein Ruhm und sein großer Name sehr zu schaffen.
Er schrieb in sein Tagebuch: „Früher dachte ich immer, wie schön es wäre, berühmt zu sein. Jetzt weiß ich, dass es ein Fluch ist. Und im Grunde wäre ich gern wieder gewöhnlich, anonym, damit mich niemand erkennt, damit ich ausgehen kann, ohne dass jemand Notiz von mir nimmt. Ich habe es satt, berühmt zu sein, ein gefeierter Mann zu sein. Ich bin ein Gefangener in meinem eigenen Hause. Ich kann nicht einmal einen Spaziergang machen, wenn der Himmel in allen Farben glüht und die Sonne so schön untergeht. Ich fürchte die Masse.“
Dieselbe Masse hat ihn zum großen Mann gemacht. Zehn Jahre später vertraut er deprimiert und tieftraurig seinem Tagebuch an: „Ich ahnte ja nicht, dass meine Gebete erhört würden.“ Denn Moden ändern sich, die öffentliche Meinung ändert sich. Wer heute berühmt ist, an den erinnert sich morgen niemand mehr. War heute jemand kaum bekannt, steigt er morgen plötzlich zum Gipfel des Ruhms auf. Und genauso war es Voltaire ergangen.
Ganz allmählich waren neue Denker, neue Philosophen am Horizont aufgetaucht. Vor allem Rousseau hatte Voltaire einst verdrängt. Das Gedächtnis der Leute ist nicht sehr zuverlässig. Meinungen wechseln wie Moden. Einst war er in Mode, jetzt war es ein anderer. Rousseau verwarf alle Ideen Voltaires: Sein Ruhm hatte Voltaire ausgelöscht; er wurde anonym. Jetzt war kein Polizeischutz mehr nötig. Jetzt sagte ihm niemand auch nur „Guten Tag“. Die Leute hatten ihn völlig vergessen. Und jetzt erst erkannte er: „Da war es besser, ein Gefangener zu sein. Jetzt kann ich überall frei herumlaufen, aber es tut weh. Die Wunde wird ständig größer – ich lebe noch, und die Leute halten Voltaire offenbar für tot.“ Und als er starb, folgten ihm nur dreieinhalb Leute zum Friedhof. Ihr werdet überrascht fragen: Warum dreieinhalb? Drei waren Menschen, und sein Hund zählt als halbe Person. Der Hund führte den Leichenzug an.
Hochmut ist ein Abfallprodukt der öffentlichen Meinung. Die anderen geben ihn dir: sie können ihn dir wieder nehmen.
Stolz ist etwas völlig anderes. Der Löwe hat Stolz. Das Wild im Wald – seht es euch an – hat viel Stolz, viel Würde, viel Anmut. Ein tanzender Pfau oder ein Adler, der oben im Himmel fliegt – sie sind nicht hochmütig. Sie sind nicht darauf angewiesen, was ihr denkt – sie sind einfach würdevoll, aus sich heraus. Ihre Würde kommt von innen. Dies gilt es zu verstehen, denn alle Religionen haben den Menschen ihren Stolz ausgetrieben: Seid demütig! Und damit haben sie ein Missverständnis unter den Menschen verbreitet, nämlich, dass Stolz Egoismus sei.
Zarathustra stellt absolut klar, dass er für starke Menschen ist, für mutige Menschen, für den Abenteurer, der sich ohne alle Angst, auf nie betretenen Pfaden seinen Weg ins Unbekannte bahnt. Er ist für Angstlosigkeit. Und wunderbarerweise kann ein Mensch mit Stolz – und nur ein Mensch mit Stolz – zum Kind werden.
Die sogannnte christliche Demut ist nur ein Hochmut der Kopfstand macht. Das Ego steht Kopf, aber es ist da, und man sieht es den Heiligen an, dass sie egoistischer sind als die gewöhnlichen Leute. Sie brüsten sich ihrer Frömmigkeit, ihrer Entsagung, ihrer hohen Geistigkeit, ihrer Heiligkeit, ja sogar ihrer Demut. Niemand ist so demütig wie sie. Das Ego schleicht heimlich durch die Hintertür zurück. Ihr könnt es ruhig zur Haustür rauswerfen; es weiß, dass es eine Hintertür gibt.
Es war einmal ein Mann, der hatte eines Abends in einer Kneipe zu viel getrunken und krakeelte herum, warf mit Sachen um sich, verdrosch Leute, brüllte, fluchte und wollte noch mehr trinken. Schließlich sagte der Wirt: „So, jetzt reicht‘s. Keinen Schluck mehr für heute“, und ließ ihn vor die Tür setzen. Doch in seinem Suff konnte er sich an eine Hintertür erinnern. Im Dunkeln tappend kam wieder rein und verlangte ein Bier.