Der Würfel. Bijan Moini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bijan Moini
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037921340
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dass du den Würfel ablehnst … Aber was wäre denn so schlimm daran, wenn er deine Wohnung sieht?«

      Taso sah sie traurig an. In ihrer Frage schwang solch ein Unverständnis mit, dass sein Herz ganz schwer wurde. Vielleicht war jetzt doch noch nicht der richtige Zeitpunkt für die ganze Wahrheit. »Ich will einfach nicht, dass er mir beim Leben zusieht«, sagte er knapp.

      Dalia nickte nachdenklich. Dann fragte sie mit einem Lächeln: »Können wir das Fenster wenigstens einen Spaltbreit öffnen? Wenn die Fremde in deiner Wohnung erstickt und nicht mehr rauskommt, hättest du bald mehr als Drohnen in der Wohnung …«

      Taso lächelte beklommen zurück. Er wollte etwas kontern, ihm fiel aber nichts Sinnvolles ein. Er hatte die Fenster schon seit Monaten nicht geöffnet – für die Luftzirkulation sorgten nur die Lüftungen in Bad und Küche – und wollte heute keine Ausnahme machen. Zu seiner eigenen Überraschung sagte er allerdings: »Vielleicht das Küchenfenster? Ich öffne es ein bisschen und stelle was Schweres davor, damit keine Drohnen reinkönnen.«

      Dalia nickte eifrig.

      Das Küchenfenster öffnete sich in Richtung Wandschrank, weg von der Tür zum Zimmer. Viel zu sehen bekämen die Drohnen durch den kleinen Spalt also nicht. Taso drehte den Griff des Fensters und löste es mit einem Ruck vom Rahmen, was an das Geräusch beim Abziehen eines Klebestreifens erinnerte. Nur Augenblicke später belüfteten die Rotoren eines Datenschürfers seine Küche. Mit dem Rücken zu Dalia zeigte Taso ihm den Mittelfinger.

      Als sie am Tisch saßen, verrührte Taso langsam den Zucker in seiner Tasse, ohne mit dem Löffel den Rand zu berühren. Er suchte nach einem einfühlsamen Gesprächseinstieg. Im Grunde wusste er nichts über Dalias Leben in Humaning. Er konnte nur vermuten, dass sie mit so überzeugten Namischen als Eltern ihr Leben lang kontrolliert und indoktriniert worden war. Ihre Flucht musste sie viel Überwindung gekostet haben. Kein Wunder, dass sie nicht von allein erzählte.

      »Warum bist du hier?«, fragte er möglichst sanft.

      Dalia umfasste ihre Tasse und pustete konzentriert hinein. »Ich wusste nicht, wo ich sonst hinsollte … Meine ganze Familie sind Namische. Nur meine Tante nicht, aber die hätte mich trotzdem sofort zurückgebracht.« Ihr Blick haftete fest an ihrer Tasse. »Ich kenne sonst niemanden hier draußen – ich war ja erst vierzehn, als wir umgezogen sind. Und die meisten meiner damaligen Freundinnen sind mit ihren Familien auch nach Humaning oder in andere WfZs gezogen.«

      »Wo habt ihr denn früher gewohnt?«

      Dalias Blick huschte kurz zu Taso. »In einem kleinen Dorf im Harz.« Sie biss auf ihrer Unterlippe herum. »Du warst der Einzige, der mir in den Sinn kam … Gestern hab ich mich endlich getraut, deine Mutter nach deiner Adresse zu fragen, unter dem Vorwand, dass ich dir schreiben will. Dann habe ich schnell ein paar Sachen gepackt, hab den anderen gesagt, dass es mir nicht gut geht, und bin während des Mittagsgebets abgehauen. Nicht weit vor der Stadtgrenze ist eine Bushaltestelle, von dort war es eigentlich ganz einfach. Zwar ein bisschen unheimlich, diese Geisterbusse, aber ich habs überlebt.«

      Taso nickte. »Ist … ist irgendwas passiert, weshalb du abgehauen bist?«

      Dalias Gesicht verhärtete sich, jetzt sah sie Taso direkt an. »Nein, nichts ist ›passiert‹! Reicht es nicht, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe? Ich hab zweiundzwanzig Jahre so gelebt, wie andere es für richtig hielten. ›Gottesfürchtig‹ nannten sie das, dabei hatte es mit Gott nicht das Geringste zu tun!«

      Taso wusste nicht, was er sagen sollte.

      Dalia wandte den Blick wieder ab und sprach nun leiser. »Entschuldige. Aber es muss nicht immer erst was ›passieren‹, damit man sich ein anderes Leben wünschen darf. Ich habe viel zu lange gebraucht, um das zu verstehen.«

      Tasos Mund fühlte sich plötzlich trocken an. Er schämte sich, obwohl er nichts falsch gemacht hatte. »Vielleicht ist es das Letzte, worüber du jetzt reden willst …«, sagte er nach einer Weile, »aber ich hab keinen Schimmer, wie dein Leben in Humaning war.«

      Dalia sah ihn verbittert an. »Leben? Das war kein Leben, es war die Hölle.« Sie trank einen Schluck und starrte in Richtung Küche, aus der die Rotorengeräusche einer neuen Drohne zu hören waren. »Die Namischen behaupten zwar, sie seien keine Sekte, aber genau das sind sie, und zwar von der schlimmsten Sorte. Wusstest du, dass ich Humaning nie allein verlassen durfte? Wenn wir doch mal draußen waren, durfte ich mit niemandem reden, und meine Eltern verteufelten alles und jeden, dem wir begegneten. Einmal habe ich mich mit einer Freundin rausgeschlichen. Wir haben im Nachbarort ein Bier getrunken. Mein erstes Bier überhaupt! Das war so ein genialer Nachmittag … Natürlich hat uns jemand gesehen und verpfiffen. Mein Vater ist völlig ausgerastet. Als ich nach Hause kam, hat er mich in den Keller gesperrt. Einen Monat musste ich dort bleiben, durfte nur raus, wenn ich aufs Klo musste. Da war ich achtzehn!« Dalia schüttelte den Kopf. »Natürlich hab ich damals kaum protestiert, sondern einfach meine Zeit abgesessen … und mich sogar schuldig gefühlt.«

      Taso sah sie bestürzt an.

      Dalia lächelte verbittert. »Aber diese räumliche Enge ist nichts gegen die Hirnwäsche. Mindestens einmal am Tag musste ich zur Kirche. Unsere Prediger beschimpften Kubisten erst nur als Götzenanbeter, inzwischen seid ihr alle schlicht des Teufels. Jede Woche erreichen uns aus der Muttergemeinde in Amerika weitere Regeln und Neuinterpretationen von Bibelstellen. Du kannst dir nicht vorstellen, was man als Teenager alles falsch machen kann. ›Deine Bluse zeigt zu viel Arm!‹ … ›Sprich den Namen des Herren nicht ohne Grund!‹ … ›Der Umgang mit diesem oder jenem ist nicht gut für dich!‹ … Jeden Tag musste ich mir so was anhören!

      Einmal hat mich mein Vater mit Smarts erwischt. Ein Freund hatte die irgendwo draußen gefunden und war deswegen der große Star unter uns Sektenkindern. Ich war total glücklich, als ich sie mal ausleihen durfte. Ich wollte mir nur ansehen, was jeder außer uns sich da in die Augen und Ohren steckt. Sie funktionierten in Humaning natürlich nicht, und wahrscheinlich waren sie sowieso kaputt. Trotzdem hat mich Papa gezwungen, meine ›Sünde‹ im nächsten Gottesdienst zu beichten. Mama sprach dann vor der versammelten Gemeinde das Urteil: Zwei Wochen durfte niemand mit mir reden. Wie bereitwillig meine Mutter ein Exempel an mir statuierte, hat mir wirklich Angst gemacht.«

      Taso wusste noch immer nicht, was er sagen sollte. Solche Informationen hatte der Gaukler in seinen Berichten über die Namischen verschwiegen und sie lieber für ihre Ablehnung des Würfels, für ihre Disziplin und Überzeugung gefeiert. Aber wirklich überrascht war er auch nicht. Wie so oft wollte niemand hinter die Fassade blicken.

      »Vor zwei Jahren haben unsere Nachbarn CRAC-Anhänger versteckt«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, ob du die kennst, das ist die Christian Resistance …«

      »… Against Cubism«, ergänzte Taso.

      Dalia nickte. »Das muss man sich mal vorstellen – die verstecken Terroristen, die bereit sind, für ihre Sache zu töten … im Namen Gottes! Die haben sogar zwei Freunde von mir rekrutiert. Deren Eltern waren auch noch stolz darauf. Von da an wollte ich nur noch weg, raus aus dieser verlogenen Gemeinde. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte, ich kannte ja nichts anderes. Meine ganze Familie, alle meine Freunde waren in Humaning.« Dalia stiegen Tränen in die Augen. »Sind in Humaning.«

      Taso ertrug es kaum, sie so niedergeschlagen zu sehen. Er wollte, dass sie sich besser fühlte, wusste aber nicht, was er tun konnte. Ungeschickt versuchte er, das Gespräch am Laufen zu halten. »Warum … Warum bist du nicht früher abgehauen?«

      Dalia verzog gequält das Gesicht. Sofort bereute Taso die Frage. »Ich habe seit dem Nachmittag mit dir kaum über etwas anderes nachgedacht«, sagte sie.

      Tasos Herz schlug schneller.

      »Aber so einfach war das nicht. Es hat lang gedauert, bis ich verstand, dass ich meinen Eltern nichts schulde. Dass Gott nicht von mir wollen kann, dass ich unglücklich bin. Dass unsere Prediger keinen besseren Zugang zu ihm haben als ich selbst. Und außerdem war … ist da diese Angst vor einer fremden Welt, von der ich nichts verstehe …«

      »Nein!«, rief Taso und sprang auf. Er hatte aus