Stumm verließen sie den Raum. Es war klar, dass sie heute nicht wie sonst noch eine Weile zusammensitzen und über Gott und die Welt quatschen würden. Am Ausgang der Bar umarmten sie sich kurz.
»Bis nächsten Monat«, murmelte Tim noch, bevor er ging. »Denk gut darüber nach. Ich meine es wirklich, wirklich ernst. Wir alle meinen es ernst.«
Taso ging zurück in die Bar und spürte Rosies Blick vom Tresen. Als Taso zu ihm hinübersah, konzentrierte er sich jedoch mit eiserner Miene auf das Trocknen des Bierglases in seiner Hand.
Die folgenden Stunden verbrachte Taso damit, herumzusitzen, den Gaukler anzustarren und in dem Salat herumzustochern, den er sich bestellt hatte. Es rumorte in ihm, und er war heilfroh, als er um Viertel vor sieben Rosie zuwinken und sich auf den Weg machen konnte zu seiner zweiten Verabredung, die seine Stimmung hoffentlich heben würde.
Er passierte die Sicherheitsschleuse zwischen Diagon Alleys Hauptgebäude und dem Westflügel der WfZ, der sich Little Diagon nannte. Little Diagon konnte man auch mit einem Pred-Score von über 50 betreten, weshalb es voller Kubisten war. Die meisten kamen nicht, um sich von einem würfelfreien Leben überzeugen zu lassen, sondern wegen der verruchten Atmosphäre, des Glücksspiels, des unverbindlichen Sex.
Casinos waren im Rest des Landes seit Jahren verboten, weil sie allem zuwiderliefen, was den Kubismus ausmachte: Vernunft, Berechnung, Selbstkontrolle. Nur WfZs hatten ihre Lizenzen behalten dürfen, woraufhin Casinos rasch zu ihrer besten Einnahmequelle wurden. Hugo hatte sicher genau das im Kopf gehabt, als er kurz nach dem Glücksspielverbot beschlossen hatte, den Westflügel von Diagon Alley auszubauen und aus der entstehenden Spielhölle eine »Begegnungsstätte« für Kubisten und Offliner zu machen, die auch Bars, Clubs und Restaurants enthielt. Little Diagon beherbergte nicht selten finstere Gestalten, weil man dort, anders als in Diagon Alley, kein halbwegs sauberes Vorstrafenregister brauchte, um Zugang zu erhalten. Der Würfel hatte auch hier nichts zu melden, sodass die Polizei Little Diagon mit großer Regelmäßigkeit aufsuchte.
Beliebt war Little Diagon vor allem bei den Realo-Fetischisten, die den Würfel zwar akzeptierten, sich aber nicht von Sliftings in die Irre führen lassen wollten. Die meisten Besucher waren jedoch ganz normale Kubisten, die sich ohne Folgen für ihren Pred-Score gehen lassen wollten. Viele von ihnen suchten das schnelle Abenteuer, denn Fremdgehen war draußen praktisch unmöglich geworden. In fast jeder festen Beziehung wurde mittlerweile »Monog« genutzt. Die App verhinderte, dass der Nutzer in Kontakt mit Menschen kam, zu denen er sich hingezogen fühlen könnte, oder sie sliftete, falls der Kontakt unvermeidbar war, diese Menschen so um, dass sie unattraktiv erschienen, oder warnte, wenn beides nicht fruchtete, den potenziell Betrogenen rechtzeitig. Ging doch jemand fremd, reduzierte das drastisch den eigenen Pred-Score. Nur Scheidungen waren noch kostspieliger, weil fast nichts die Erwartungen des Würfels an den künftigen Lebenslauf der Betroffenen mehr enttäuschte als das Scheitern einer festen Beziehung. Das Risiko einer Scheidung ging praktisch niemand leichtfertig ein, weil an einem hohen Pred-Score zu viel hing: Grundeinkommen, Freunde, Job. Deswegen trafen sich viele Kubisten, die dem Würfel ihre dunkle Seite nicht zeigen konnten, in den schummrigen Räumen von Little Diagon, volltrunken, lüstern und oft maskiert.
Offliner waren in Little Diagon in der Minderheit. Eine beliebte Minderheit, weil für ihre natürliche Diskretion bekannt. Taso verbrachte hier nur selten Zeit, weshalb es ein großer Zufall gewesen war, dass er vor etwa einem Jahr Lea kennengelernt hatte.
Er hatte sich mit einem Freund in einer kleinen Bar verabredet und war viel zu früh dran gewesen. Während er an der Theke wartete, sprach ihn zu seiner Überraschung eine schlanke, maskierte Frau an. Sie stellte sich als Lea vor und verwickelte ihn sofort in ein Gespräch, schien zugleich unendlich aufgeregt und gelöst zu sein. Schnell suchte sie Kontakt zu seinem Arm, zu seinem Hals, zu seinem Mund. Taso hatte nicht gewusst, wie ihm geschah, hatte sich wahnsinnig geschmeichelt gefühlt. Er erinnerte sich noch gern und oft an ihr Lachen und ihre fordernden Berührungen. Als sein Freund gekommen war, hatte Taso ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gegeben, dass er den Abend mit Lea verbringen wollte, und war ihr sehr bald auf ein Hotelzimmer gefolgt. Seitdem trafen sie sich einmal im Monat.
Er ging zügig an den leuchtenden Werbetafeln des Casinos und den noch spärlich gefüllten Bars vorbei und betrat das »Offline«, das einzige Hotel in Little Diagon. Am Empfang erfuhr er, dass Lea bereits eingecheckt hatte. Im Aufzug zupfte er hastig die Haare zurecht, überprüfte seinen Atem und klopfte dann mit erhöhtem Puls gegen die Tür von Zimmer 412.
Lea trug einen Bademantel und ließ ihre kinnlangen braunen Haare ins Gesicht fallen, was auf Taso eine unheimlich anziehende Wirkung hatte. Er widerstand dem Impuls, das Licht einzuschalten. In der ersten Nacht hatte sie den Schalter sogleich wieder umgelegt, und erst dann ihre Maske abgenommen. Seitdem waren sie sich im Halbdunkel begegnet. Wortlos ging sie auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Erst langsam und zögerlich, und als er sie sacht umfing, sicherer. Sie löste die Umarmung und zog ihn zum Bett.
Noch immer wusste Taso fast nichts über Lea. Nicht, ob sie wirklich so hieß, wie alt sie war – sie hatte einmal behauptet, 34 zu sein, aber sie sah jünger aus –, ob sie einen Mann hatte oder eine Frau oder gar Kinder, ob sie arbeitete und was, woher sie stammte, was sie gern aß, wie sie zum Würfel stand. Persönliche Fragen blockte sie jedes Mal ab. Sie hatte sehr deutlich gemacht, warum sie sich mit ihm traf, und wenn er ehrlich war, genügte ihm das. Es gefiel ihm, begehrt zu werden und den Kopf auszuschalten.
Wenn sie sprachen, dann nur über alte Fernsehserien, die sie aus der Datenbank des Offlines wählten und in der ersten Nachthälfte ansahen. Diesmal schlug Lea eine Serie über einen Chemielehrer vor, der zum Drogenbaron wurde. Taso nickte und ließ sich zufrieden aufs Bett fallen. Besser als jede Indi-Serie. Er sah gern Figuren aus präkubistischer Zeit dabei zu, wie sie sich durchs Leben schlugen. Nur der Mensch und die unberechenbare Welt. Lea reichte ihm ein Glas Rotwein und startete die Serie. Erst sahen sie fern, tranken zwei Flaschen Wein, dann hatten sie Sex. Das war der Ablauf, den Lea ohne viele Worte bestimmt hatte und der Taso mittlerweile so vertraut war, dass er ihn nicht mehr verändern wollte.
Sex mit Lea war einer der wenigen Höhepunkte in Tasos Leben. Er war wild und leidenschaftlich, ausschweifend und unwahrscheinlich befriedigend. Schon in der ersten Nacht hatte sie begierig Besitz ergriffen von seinem Körper, hatte ihn hastig ausgezogen, sich immer wieder nackt an ihn geschmiegt, ihr Gesicht in seiner Haut und in seinen Haaren vergraben. Sie war mit den Fingern seine Gesichtszüge entlanggefahren und hatte ihm von Anfang an ein vertrautes Gefühl gegeben.
Es störte ihn nicht, dass sie dafür offenbar etwas Alkohol brauchte. Er genoss die Stunden mit ihr und fühlte sich zu ihr hingezogen, dachte außerhalb von Little Diagon aber kaum an sie. Er nahm an, dass es ihr genauso ging. Sie füllten mit ihren monatlichen Treffen eine Leerstelle in ihrer beider Leben, ohne zu wissen, worin diese Leere beim anderen eigentlich bestand.
Auch heute genoss Taso das Danach. Lea blieb verschwitzt auf ihm liegen und verharrte dort, bis er seinen eingeschlafenen Arm bewegte. Schwerfällig erhob sie sich, zog ihren Bademantel an und gab ihm einen zarten Kuss auf den Mund. Taso wollte nach ihr greifen, sie zurück aufs Bett ziehen, aber sie entzog sich ihm, ging ins Bad und verriegelte die Tür. Durch den Türspalt fiel etwas Licht ins dunkle Zimmer. Taso fragte sich, was sie jetzt im Spiegel sah und warum sie sich vor ihm versteckte. Er hatte ihren Körper nie richtig betrachten, hatte ihn nur mit Mund und Händen erkunden dürfen. Vielleicht fühlte sie sich einfach nicht wohl in ihrer Haut, vielleicht steckte mehr dahinter. Manchmal wollte er sie direkt darauf ansprechen, entschied sich aber jedes Mal dagegen. Entweder war er zu müde, oder er wollte die Stimmung nicht kippen. Und es lohnte sich ohnehin nicht zu fragen, denn sie würde ihm nicht antworten. Auch, warum sie zu zwei Treffen nicht erschienen war, hatte sie nie erklärt.
Taso schloss die Augen. Er hörte, wie im Bad die Dusche anging, und ließ sich von dem leisen Plätschern des Wassers in den Schlaf tragen.
4
Auf dem montäglichen Weg zur Arbeit war Taso in Gedanken bei seinem Treffen mit Tim. Hätte er der Allianz seine