Th. M. Dostojewsky: Eine biographische Studie. Nina Hoffmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nina Hoffmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066112783
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so fern wie Frankreich. Man wird sagen: „Es ist auch besser, dass man bei uns nicht auf dem Markte schreit.“ Ohne Zweifel wird niemand ein Wort dagegen einzuwenden haben, allein ein übertriebenes Schweigen und eine übermässige Angst werfen auf unser Alltagsleben ein düsteres Kolorit, welches alles in einem freudlosen, unfreundlichen Lichte erscheinen lässt, und was das Beleidigendste ist, dieses Kolorit ist ein falsches, diese ganze Angst ist gegenstandslos, unnütz (ich glaube daran), alle diese Befürchtungen sind weiter nichts als unsere eigene Erdichtung, und wir beunruhigen nur selbst unnützerweise die Obrigkeit durch unsere Geheimthuerei und unser Misstrauen. Denn aus diesem gespannten Zustande entsteht oft viel Lärm um nichts. Da erhält das gewöhnlichste laut ausgesprochene Wort bedeutend mehr Gewicht, und das Faktum selbst nimmt durch die Excentricität, in der es da erscheint, manchmal kolossale Dimensionen an und wird unrichtigerweise anderen (ungewöhnlichen und nicht wirklichen) Ursachen zugeschrieben. Ich bin immer der Ansicht gewesen, dass eine bewusste Überzeugung besser, fester sei als eine unbewusste, die nicht widerstandsfähig, schwankend ist und von jedem Winde umgeworfen wird, der sich erhebt. Das Bewusstsein aber reift nicht, lebt sich nicht aus, wenn du schweigst. Wir gehen der Gemeinschaft aus dem Wege, wir zerbröckeln uns in kleine Zirkel oder vertrocknen in Vereinsamung. Wer trägt aber an diesem Zustande die Schuld? Wir, wir selbst und kein anderer — ich habe immer so gedacht.

      Obwohl ich nun unsere gesellschaftlichen Gespräche als Beispiel angeführt habe, so bin ich doch selbst weit entfernt davon, ein Schreier zu sein; dies wird jeder von mir sagen, der mich kennt. Ich liebe es nicht, viel und laut zu sprechen, sei es auch mit Freunden, deren ich sehr wenige habe; umsoweniger rede ich in der Gesellschaft, wo ich auch den Ruf eines einsilbigen, schweigsamen, ungeselligen Menschen habe. Ich habe sehr wenig Bekanntschaften; die Hälfte meiner Zeit nimmt die Arbeit ein, welche mich ernährt, die zweite Hälfte raubt mir die Krankheit, die in hypochondrischen Anfällen besteht, an welchen ich schon nahezu drei Jahre leide. Es bleibt kaum ein wenig Zeit, um zu lesen und zu erfahren, was in der Welt vorgeht. Für Freunde und Bekannte bleibt daher äusserst wenig Zeit übrig. Wenn ich daher jetzt gegen das System des allgemeinen, gleichsam systematischen Schweigens und Heimlichthuns schreibe, so geschieht es darum, weil ich den Wunsch hatte, meine Überzeugung auszusprechen, aber durchaus nicht, um mich zu verteidigen. Allein wessen klagt man mich denn an? Man klagt mich an, dass ich über Politik, über den Westen, über die Zensur usw. gesprochen habe. Aber wer spricht denn nicht in unserer Zeit über diese Fragen, wer denkt nicht an sie? Wozu habe ich denn gelernt, warum ist durch das Studium Wissbegierde in mir erweckt worden, wenn ich nicht das Recht haben soll, meine persönliche Ansicht auszusprechen, oder mich im Widerspruch zu einer anderen Ansicht zu befinden, welche von vornherein eine Autorität ist? Im Westen gehen schreckliche Dinge vor, spielt sich ein ungeheures Drama ab; es kracht und zerbröckelt sich die Jahrhunderte alte Ordnung der Dinge. Die allerwichtigsten Grundlagen der Gesellschaft drohen jeden Augenblick zusammenzubrechen und die ganze Nation bei ihrem Einsturz mit sich zu reissen. 36 Millionen Menschen stellen jeden Tag buchstäblich ihre ganze Zukunft, ihren Besitz, ihre und ihrer Kinder Existenz auf das Spiel! Und ist dieses Bild nicht ein solches, um Aufmerksamkeit, Interesse, Wissbegierde zu erwecken, die Seele zu erschüttern? Dies ist dasselbe Land, welches uns Wissenschaft, Bildung, europäische Zivilisation gegeben hat. Ein solcher Anblick ist eine Lehre! Das ist schliesslich Geschichte; die Geschichte aber ist die Lehre von der Zukunft. Kann man uns nach alledem beschuldigen, uns, denen man einen gewissen Grad von Bildung gegeben, in denen man den Durst nach Kenntnissen und Kultur geweckt hat — kann man uns denn dafür anklagen, dass wir so viel Interesse daran hatten, hie und da über den Westen, über die politischen Ereignisse zu sprechen, die Bücher vom Tage zu lesen, der Bewegung des Westens zuzusehen, ja sie nach Möglichkeit zu studieren? Kann man mich denn deswegen anklagen, dass ich mit einem gewissen Ernst diese Krisis betrachte, welche das unglückliche Frankreich in Trauer stürzt und zerreisst, dass ich vielleicht diese historische Krisis für unumgänglich halte, als einen Übergangszustand (wer kann es jetzt beurteilen?) im Leben dieses Volkes betrachte, welcher endlich eine bessere Zeit einleitet? Weiter als diese Meinung, weiter als solche Ideen hat sich meine Freidenkerei über den Westen und die Revolution niemals erstreckt.

      Wenn ich nun über den französischen Umsturz gesprochen habe, wenn ich mir erlaubt habe, über die gegenwärtigen Ereignisse zu urteilen, folgt daraus, dass ich ein Freidenker bin, dass ich republikanische Ideen hege, dass ich ein Gegner der Alleinherrschaft bin, dass ich diese untergrabe? — Unmöglich! Für mich hat es niemals einen grösseren Unsinn gegeben, als die Idee einer republikanischen Staatsform in Russland. Allen, welche mich kennen, ist meine Meinung darüber bekannt; ja, endlich wird auch eine solche Anschuldigung allen meinen Überzeugungen, meiner ganzen Bildung entgegen sein. Es kann sein, dass ich mir noch die Revolution des Westens und die historische Unumgänglichkeit der Krisis, welche sich dort vollzogen hat, zurechtlege: Dort hat sich einige Jahrhunderte, mehr als ein Jahrtausend lang, ein hartnäckiger Kampf der Gesellschaft gegen eine Autorität hingezogen, welche sich durch Eroberung, Gewaltsamkeit und Unterdrückung auf einer Fremdkultur gründete. Und bei uns? Unser Land hat sich nicht wie der Westen gebildet, davon haben wir historische Beispiele vor Augen: 1. das Sinken Russlands vor der Tatarenherrschaft infolge der Schwächung und Zerbröckelung der Autorität; 2. die Missstände der Nowgorodschen Republik, einer Republik, welche sich durch mehrere Jahrhunderte auf slavischer Grundlage zu erhalten versuchte, und endlich 3. die zweimalige Rettung Russlands durch die Macht der Autorität, durch die Macht der Alleinherrschaft: das erste Mal durch die Vertreibung der Tataren, das zweite Mal in der Reform Peters des Grossen, da nur der warme kindliche Glaube an seinen grossen Lenker Russland in den Stand setzte, einen so starken Umschwung zu einem neuen Leben zu ertragen. Ja, und wer denkt denn bei uns an Republik? Wenn auch Reformen bevorstehen, so wird es sogar für jene, welche sie wünschen, klar sein wie der Tag, dass diese Reformen gerade von einer für diese Zeit noch kräftigeren Autorität ausgehen müssen, wenn sie nicht in revolutionärer Weise vor sich gehen sollen. Ich denke nicht, dass in Russland ein Liebhaber des russischen Aufstandes gefunden werden könnte. Es sind wohl Beispiele davon bekannt und bis heute erinnerlich, obwohl es schon lange her ist, dass sie sich zutrugen. Zum Schlusse habe ich mich jetzt an meine eigenen oft wiederholten Worte erinnert, dass alles Gute, das es nur jemals in Russland gegeben hat, von Peter dem Grossen angefangen, immer von oben herab, vom Throne ausgegangen ist, von unten aber noch nichts aufgetaucht ist als Eigensinn und Rohheit. Diese meine Meinung wissen viele, die mich kennen.

      Ich habe über die Zensur gesprochen, über ihre masslose Strenge in unserer Zeit; ich habe darüber geklagt, denn ich habe gefühlt, dass da ein Missverständnis sich gebildet hat, aus welchem ein für die Litteratur schwerer und gespannter Zustand hervorgegangen ist. Es war mir ein Kummer, dass der Beruf eines Schriftstellers in unseren Tagen durch eine Art dumpfen Misstrauens vernichtet wird; dass die Zensur den Schriftsteller, noch ehe er etwas geschrieben hat, als eine Art natürlichen Feind der Obrigkeit ansieht und sich daran macht, seine Manuskripte mit einer offenbaren Voreingenommenheit zu zergliedern. Es macht mich traurig, zu hören, dass man manches Werk verbietet, nicht weil man darin irgend etwas Liberales, Freidenkerisches, der Obrigkeit Widerstreitendes fände, sondern zum Beispiel darum, weil die Erzählung oder der Roman allzu traurig endet, weil ein allzu düsteres Bild darin aufgerollt worden, obwohl dieses Bild niemanden in der Gesellschaft anklagt oder verdächtigt, und obwohl die Tragödie selbst auf eine durchaus zufällige und äusserliche Weise vor sich gegangen. Man möge doch alles durchsehen, was ich geschrieben, sei es gedruckt oder ungedruckt, man möge die Handschriften meiner schon gedruckten Werke durchlesen, da wird man sehen, wie sie vor der Übergabe an die Zensur beschaffen waren; man suche nur darin irgend ein Wort, das gegen die Sittlichkeit und die festgestellte Ordnung der Dinge gerichtet wäre. Und dennoch wurde ich einem solchen Zensurverbot unterworfen, einzig nur darum, weil das Bild, das ich entwarf, mit allzu düsteren Farben gemalt war. Wenn sie aber wüssten, in welche traurige Lage der Autor dieses verbotenen Werkes dadurch versetzt war! Er stand vor der Unvermeidlichkeit, volle drei Monate ohne Brot dazusitzen, schlimmer als das, denn die Arbeit gab mir die Mittel zu meiner Erhaltung.

      Ja, überdies musste ich bei allen Entbehrungen, bei allem Harm, ja fast in Verzweiflung (denn von der Geldfrage ganz abgesehen, ist es bis zur Verzweiflung unerträglich, das Werk, das man geliebt hat, daran man Arbeit, Gesundheit, die besten Kräfte der Seele gewendet, aus Missverständnis, aus Misstrauen verboten zu sehen), ich musste also überdies bei Entbehrung, Traurigkeit, Verzweiflung