Die Aufhäufung menschlicher Schwächen und Lächerlichkeiten im Raum eines Druckbogens, dabei ein absichtliches Fernhalten aller jener Züge im Helden, welche Teilnahme erwecken müssten, also ein forcierter, bis ins Groteske gehender Humorismus mit Anklängen an Gogol und Dickens, und Stellen feiner Detailschilderung, die jener würdig wären, kennzeichnen diese Erzählung, an welcher sich der Dichter „einen Sommer lang herumquälte“.
„Die Wirtin“ wurde von Belinsky, wie wir später erfahren, sehr abfällig kritisiert. Es scheint uns diese Ablehnung gerade von Belinskys Seite erklärlich genug. Vor allem konnte dem scharfen Progressisten und Vertreter der sozialen Richtung in diesen Tagen der Bewegung ein Buch ohne Tendenz oder eine tendenziös auszunutzende Pointe nicht genügen. Andererseits war sein Geschmack zu fein, um jene Unebenheiten, jene Ungleichheiten im Ton derselben, sowie den jugendlich unrealen Romantismus, der im Hauptteil der Erzählung zu Tage tritt, nicht zu empfinden. Er hätte diese Mängel allenfalls milder beurteilen können, wenn sich dahinter eine zeitgemässe Forderung oder Anspielung verborgen hätte. Wie dem auch sei — wir sind trotz jener Fehler von diesem Jugendwerke hingerissen und erschüttert.
Die Gestalt des Alten, des eigentlichen Helden der Erzählung, wirkt auf den Leser mit derselben abstossenden Anziehung, wie sie nach der Schilderung Katharinas auf alle, die in seine Nähe kommen, wirkt. Wir begreifen seinen mystisch-verbrecherischen Sieg über das „schwache Herz“, das sich an seiner Seite vergeblich nach junger Liebe, jungem Leben sehnt, das sich losmachen möchte und ihm doch immer wieder anheimfällt. Ein Grauen durchbebt uns bei dem nächtlichen Bekenntnis Katjas, das in der geheimnisvoll-süssen Sprache der Primitiven mehr verschweigt als enthüllt, und die Schilderung der Brandnacht, jene der Flucht auf der Wolga mit dem Boot, das im Sturme „nicht dreie tragen kann“, hüllen uns, eine ossianische Ballade, in alle Schauer altnordischer Poesie. Die Herrlichkeit dieser Sprache, die Anschaulichkeit dieser Bilder, die ganz rein dichterisch wirken — das hat sich bei Dostojewsky nie mehr in dieser Art wiederholt. Was Belinsky darin gefehlt haben mochte, war wohl jene reife, frühreife Menschenkenntnis, die er in den „Armen Leuten“ so sehr bewundert hatte. Ihn mochte der Taumel des 26jährigen, „von einer Quelle der Inspiration getriebenen“ Dichters enttäuschen, dem Himmel und Hölle aus diesen zwei Menschenangesichtern entgegenschlugen. Auch konnte er unmöglich darüber hinwegsehen, dass Ordynow, der nominelle Held der Liebesgeschichte, nichts anderes ist, als ein Deus ex machina, eine Entladungsstelle für die elektrischen Pole Muryn und Katharina. Ordynow ist kein Mensch mit Fleisch und Knochen, sondern ein Bündel Nerven, an dem die Geschichte ausgeht. Auch könnte ein realistischer Kritiker durch die meisterhafte Zeichnung der Nebenfigur Jaroslaw Ilitsch, in welcher sich Dostojewskys ganze realistische Kraft mehr verrät als zeigt, nicht über das Schattenhafte alles übrigen ausgesöhnt werden. Wir aber finden in diesem Romantismus Stellen einer tiefen Seelenahnung auch vom Wesen der Frau — an welches der Dichter in der ersten Periode seines Schaffens überhaupt mit ehrfürchtiger Scheu herantritt. Am Schlusse der Erzählung spricht der Dichter durch den Mund Ordynows an folgender Stelle seinen Hauptgedanken aus:
„Es schien ihm (Ordynow), dass Katharinens Geist nicht gestört war, dass aber Muryn in seiner Weise Recht hatte, als er sie ein schwaches Herz nannte. Es schien ihm, dass ein Geheimnis sie mit dem Alten verbinde, dass aber Katharina, ohne ihre Schuld zu erkennen, so rein wie eine junge Taube, in seine Macht gekommen war. Wer waren sie? Er wusste es nicht; allein ihm träumte unaufhörlich von der tiefen, unentrinnbaren Tyrannei über ein armes, schutzloses Wesen. Und sein Herz wurde unruhig und pochte in ohnmächtiger Entrüstung in seiner Brust. Es schien ihm, dass man vor die erschreckten Augen der plötzlich erwachenden Seele hinterlistig ihren Fall hingestellt, in listiger Weise ihr armes, schwaches Herz gequält, Wahres und Falsches vor ihr vermengt hatte, da, wo es nötig schien, ihre Blindheit absichtlich unterhielt, in schlauer Weise den unerfahrenen Neigungen ihres aufstürmenden, beunruhigten Herzens schmeichelte; dass man nach und nach die Flügel ihrer fessellosen, freien Seele stutzte, so dass sie zuletzt nicht mehr fähig war, sich aufzurichten, noch ihren freien Schwung zu nehmen in das Leben der Wirklichkeit.“
Vielen Lesern dieser Erzählung hat sie unklar und unvollendet geschienen. Dies muss auch bei jenem französischen Übersetzer der Fall gewesen sein, welcher den Mut hatte, sie mit der 17 Jahre später geschriebenen Erzählung „Memoiren aus einem Souterrain“[3] (deutsch: Aus dem dunkelsten Winkel einer Grossstadt) zusammenzuschweissen und unter dem Titel „l’Esprit souterrain“ zu veröffentlichen. Derselbe französische Übersetzer hat es auch gewagt, die „Brüder Karamazow“ einer Verstümmelung zu unterziehen, indem er den Roman beim zweiten Buche beginnen lässt. Traduttori traditori!
Die „Wirtin“ wurde also von Belinsky sehr übel behandelt, was den Dichter tief kränkte, obwohl er sich gar nicht schriftlich darüber geäussert hat. Seine nächsten Mitteilungen an den Bruder sind wieder Berichte über angestrengte Thätigkeit, bestellte Arbeit, die man mit Vorschüssen sichert, „kurz eine Hölle“. Hier muss erwähnt werden, was er in allen seinen Briefen während der ganzen Dauer seiner Laufbahn immer wieder betont: „Auf Bestellung arbeiten werde ich niemals; ich habe es mir zugeschworen. Von solcher Arbeit würde ich zu Grunde gehen!“ — Der einzige Weg, den er einschlug, um durch seine Arbeit zu Gelde zu kommen, war der, dass er von den vielen Plänen und fertigen Entwürfen, die er immer mit sich herumtrug, einen oder den anderen den bekannten Redakteuren vorschlug und einen Termin angab, bis zu welchem er die Arbeit vollenden könnte. Meistens wusste er von vornherein fast ganz genau, wieviele Druckbogen sie ausmachen würde, und überschritt selten das selbst gestellte Mass. Um diese Zeit gestaltet sich Dostojewskys äusseres Leben sehr bewegt. Nach der einen Seite findet er im Hause des Malers Maikow, eines Bruders des bekannten Dichters dieses Namens, Anregung und Förderung durch den Verkehr mit Schriftstellern und bedeutenden Menschen, worunter Gontscharow, Dudyschkin, A. Maikow und andere. Er hat Gelegenheit, dort die Werke Gogols und Turgeniews bis in das kleinste Detail der Charakteristik analysierend zu besprechen, auch seinen Prohartschin herauszuarbeiten, welcher „den meisten Lesern unverständlich“ war, findet aber auch im Ehepaar Maikow thatkräftige Freunde, welche ihm bei seinen Geldkalamitäten hilfreich beispringen.
Nach der andern Seite tritt er in den Verkehr mit einem Kreis junger Leute, welche den neuen Ideen huldigen. Ein Brief aus dieser Epoche vom 9. September 1847 spricht nur eine energische Zustimmung zu des Bruders Absicht aus, seinen Abschied zu nehmen. Er rät ihm, gemeinsam eine Gesamtausgabe von Schillers Dramen, die er ja übersetzt habe, zu veranstalten, und schliesst mit den Worten: „Warte nur, Bruder, wir werden schon hinauf kommen; es ist unmöglich, dass wir beide uns nicht durchschlagen.“ Am Rande schreibt er: „Siehst Du, was Association bedeutet? Arbeiten wir getrennt, so gehen wir unter, zusammen aber gehen wir einem grossen Ziele entgegen — das ist etwas ganz anderes!“
Hier haben es die Herausgeber für angebracht befunden, eine Lücke von nahezu zwei Jahren in die Korrespondenz zu reissen, welche allerdings nicht sehr ausgiebig und nicht sehr expansiv gewesen sein dürfte. Die „neuen Ideen“ Sozialismus, Fourierismus hatten den Feuerkopf ergriffen. Er schloss sich um diese Zeit jenem Kreise sehr nahe an, in welchem über die künftigen Umgestaltungen Russlands, über eine Änderung der Staatsverfassung lebhaft debattiert wurde. Dies war aber zu einer Zeit, da es geradezu gefährlich sein mochte, sich eine Ansicht über den Umschlag des Wetters, eine Prognose zu erlauben. Sprach man schon im Kreise von Freunden und Gesinnungsgenossen, so hütete man sich wohl, die Worte, die gefallen waren, nach aussen auszusprechen oder aufzuschreiben; so kann es wohl sein, dass nicht viele Briefe Dostojewskys an seinen Bruder in Gang kamen. Theodor Michailowitsch war an und für sich nicht mitteilsam; wo er sich mitteilte, geschah es zumeist in nervöser, durch Gegensatz und Widerspruch oder durch eine aufgestachelte Lust am Paradoxen hervorgerufene Kampfstimmung.
Indessen sind aus dieser Zeit noch einige Briefe im Besitze der Rechtsnachfolger, welche sich noch heute in der schwierigen Lage befinden, den Dichter lavierend nach beiden Seiten hin schützen und immer fürchten zu müssen, ihn nach rechts oder nach links zu kompromittieren. Es wäre zu untersuchen, ob nicht ein kühnes Durchbrechen dieser Schwierigkeiten durch offene Darlegung des Sachverhalts, Veröffentlichung