»Nach dem Parsifal muss ich endlich abnehmen!«, stöhnte er, als er sich mühselig und immer darauf achtend, dass ihm der Knopf seiner Hose nicht riss, aus dem Wagen quälte.
»Hättest du damit nicht auch schon vor dem Parsifal anfangen können?«, meinte ich lächelnd in sein angestrengtes Gesicht, als wir uns vorsichtig in die Reihen der flanierenden Gäste schoben.
Wir waren angekommen. In Bayreuth, dem göttlichen Olymp wahrer Musikenthusiasten, und das rein zufällig. So, wie es für den Leichtlebigen genügt, einen Baum zu setzen, einen Sohn zu zeugen und ein Buch zu schreiben, um Vollkommenheit zu erlangen, so muss ein bekennender Musikliebhaber die (Ton-)Leiter der Wiener Oper und später der Salzburger Festspiele erklimmen, um nach Jahren der Entbehrung endlich in den geweihten Hallen Bayreuths lustwandeln zu können.
Eine liebgewonnene Freundin hatte uns Karten über tausend Umwege und mit größten Anstrengungen besorgt, ein Umstand, den wir anfangs gar nicht zu schätzen wussten. Denn Karten für dieses himmlische Ereignis – von einem weltlichen Festival zu sprechen, würde Wagnerianer zutiefst verletzen – sind nicht an Abendkassen zu kaufen. Das wäre zu ordinär, zu profan. Sie werden weitergegeben, vererbt an Geweihte oder an jene, denen göttliche Gnade zuteil geworden ist.
An uns zum Beispiel.
Und anstatt tief gerührt und gebeugt vor dem Erhabenen staunend und demütig zu stehen, quälte Odysseus seine Smokinghose und mich die Tatsache, dass ich sechs Stunden dieses schwülstige »Bühnenweihfestspiel« ertragen musste.
Der Preis der Karten war ebenso göttlich, obwohl natürlich nicht vom schnöden Mammon die Rede sein sollte, nur so viel, ein Türkeiaufenthalt für zwei Personen all inclusive oder vier Großeinkäufe für eine sechsköpfige Familie wären davon leicht zu bezahlen gewesen.
Aber wie gesagt, von Geld spricht man nicht in Bayreuth – man hat es einfach! –, so betraten wir ehrfurchtsvoll mit einem Programmheft in der Hand das Festspielhaus.
Ich spürte förmlich die wohlwollenden Blicke meines verstorbenen Großvaters, der zeitlebens ein glühender Wagnerianer gewesen war, endlich hatte seine verdorbene Enkeltochter, der er stets eine kriminelle Zukunft prophezeite, den rechten Pfad wahren Musikempfindens beschritten. Kein Mensch durfte ihn stören, wenn er abends von seiner Arbeit erschöpft mit einem Glas Cognac im Sofa saß und den »Ring« hörte. Ich hatte schon als Kind meine Probleme damit. Die Großmutter erklärte mir sein Verhalten als ein von der Welt entrücktes, ich hatte hierfür eine plausiblere Erklärung parat, er war schlichtweg verrückt geworden.
Richard Wagner kann man nur lieben oder hassen, ich entschied mich für Zweiteres. Musikliebhaber unter Ihnen mögen mir diesen Umstand verzeihen, ich bin vielleicht zu links-liberal, zu verdorben oder einfach nur zu blöd, um Wagner zu verstehen.
Odysseus und ich saßen zusammengepresst wie Sardinen in der unbequemen hölzernen Bestuhlung und warteten gespannt auf die Ouvertüre. Beim Durchblättern des Programmheftes wurde mir schummrig. Zitate von Meister Eckhart, Schopenhauer bis Friedrich Nietzsche – »Der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks« – deuteten auf die bevorstehende Größe Parsifals hin. Ich blätterte und blätterte, außer hoch philosophischen Gedanken, Bildern der Aufführung und seitenweise Sponsorenlogos war kein Inhalt über das Werk zu finden.
»Da steht ja nichts über die Handlung drinnen!«, hauchte ich Odysseus ins Ohr.
»Ruhe, bitte!«, hörte ich hinter mir erbost einen Wagnerianer raunen, der offensichtlich die Störung seiner Gralsburg nicht billigte.
Wieder zupfte ich am Nervengerüst meines Liebsten, »Ich hab keine Ahnung, um was es hier geht! Scheiß Programmheft! Kostet zwanzig Euro und kannst es eigentlich wegschmeißen!«
»Sie werden im Programmheft auch nichts finden, man setzt ein gewisses Grundwissen voraus!«, polterte erneut der gut gekleidete Herr.
Odysseus krümmte sich, ob es Scham oder nur der zwickende Hosenknopf war, konnte ich nicht beurteilen. Es war wahrscheinlich Mitleid oder die Assoziation mit einer Walküre, immerhin bin ich groß, korpulent und blond, die den Herrn dazu veranlasste, mich in kürzester Zeit in die Handlung des Parsifal einzuweihen. Fünf Sätze genügten und ich wusste Bescheid, denn Parsifals Inhalt war schnell erzählt. Tolkiens Herr der Ringe war komplizierter!
»Sie sind das erste Mal hier?«, fragte mich der Herr.
»Ja, bisher waren wir immer bei den Salzburger Festspielen!« Mit meiner zur Schau getragenen Arroganz, was klassisches Musikempfinden betraf, wollte ich den Herrn in seine Schranken weisen.
Er aber lächelte und meinte ironisch, »Salzburger Festspiele? Das ist ja ein seichter See im Vergleich zum tiefen Ozean Bayreuths!«
Mein Gott, war der vielleicht schwulstig! Jetzt bereute ich es wirklich, nicht schon vor Beginn der Aufführung ein Viertel Weißwein getrunken zu haben.
Der Vorhang ging auf. Das Weihfestspiel begann.
2. Akt:
Still und weich glitten die Geigen in meine Seele, eine unendlich schwermütige Musik drang in mein Ohr. Die Szene: Herzeleide, die Mutter Parsifals liegt im Bett und stirbt. Nein, sie darbt dahin und wartet auf ihren lang ersehnten erlösenden Schlaf. Dazu diese unfassbar erhabenen Klänge.
»Das klingt ja wie aus dem Film Spartacus mit Kirk Douglas!«
»Pssst«, war wieder hinter mir zu vernehmen.
Während das Kind Parsifal gedankenverloren mit schwarzen Bausteinen am Grab Wagners spielt, das in die Mitte der Bühne platziert ist, versucht Kundry, eine Zofe, es seiner sterbenden Mutter zuzuschieben, da schleift sich König Amfortas mit Dornenkrone und weißem, blutverschmierten Büßerhemd wie Jesus auf die Bühne. Begleitet wird er von Engeln mit schwarzen Flügeln und seinem Freund und Butler (?) Gurnemanz. Die Szene spielt vor der Villa Wahnfried, Wagners Haus in Bayreuth.
Das alles hätte ich ja noch irgendwie verstanden, als dann aber der kleine Parsifal in eine Badewanne springt und hoch oben auf dem Balkon des Hauses derselbe als erwachsener Mann im Matrosenkostüm einen weißen Schwan abschießt, hielt ich es nicht mehr aus.
»Ich kenn mich nicht mehr aus, Odysseus. Sind wir in der richtigen Vorstellung?«
»Ich mich auch nicht, ich werde in der Pause ein Textbuch kaufen, dann haben wir es leichter!«
»Pssst! Können Sie nicht endlich leise sein?«, kam es erneut in meinen Nacken gehaucht.
Ich drehte mich um, »Sie haben mir vorher eine ganz andere Geschichte erzählt, diese hier ist ja vollkommen idiotisch und wirr!«
Der Wagnerianer schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger schulmeisterhaft auf seine Lippen, um mir dummem Kind zu zeigen, dass ich endlich meinen Mund halten sollte.
Die Stunden vergingen. Die Handlung hatte durchaus ihre Längen und schien mir eher platt zu sein, da nutzte auch der Umstand nichts, dass der böse Klingsor als Transvestit verkleidet mit Netzstrümpfen und schwarzen, hohen Schuhen seinen phosphoreszierenden Speer drohend vom überdimensionalen Kaminsims in die Bühnengesellschaft werfen wollte.
Ich hatte zu dieser Zeit die Summe der Dreier- und Zweierkandelaber, das sich daraus ergebende Integral und die Anzahl der Reihen mit entsprechender Bestuhlung berechnet, bis endlich der Glanz der Lichter die Pause verkündete. Einige Besucher fingen zu klatschen an, was mit verärgertem Kopfschütteln sofort wieder unterdrückt wurde, denn bei einem »Bühnenweihfestspiel« wurde still bewundert und nicht plump geklatscht. Mir rann tatsächlich eine Träne über die Wange,