Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Bruszies
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956690976
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Liz nickte, als hätte sie das gewusst.

      »Da vorne kommt gleich eine wunderschöne Lichtung«, erklärte sie mit einem verdächtig sonnigen Lächeln, unter dessen Oberfläche Ben ein Zögern erkannte, welches ihn augenblicklich in Alarm versetzte. Auch wenn er nicht genau wusste, warum.

      »Hänsel fragt sich allerdings, ob du tatsächlich den Weg kennst«, merkte er an, und Arne nickte bestätigend neben ihm. »Gretel fragt sich das auch«, fügte der junge Mann hinzu und strich sich mit einem belustigten Augenzwinkern durch das schulterlange Haar.

      Ein Seufzen von sich gebend, ging Liz weiter. »Ihr seid unmöglich«, rief sie über die Schulter, und Ben hatte ihr vorheriges Zögern schon fast wieder als Sinnestäuschung abgetan.

      Aber dann fragte Liz, während sich die Freunde hintereinander durchs Unterholz kämpften: »Ben. Sag mal. Kannst du dich eigentlich noch daran erinnern, wie man dich und deinen Großvater gefunden hat?«

      Und dies waren Worte, die er nicht hören wollte. Ben wich einem zurückschnellenden Ast aus, der gefährlich nah an seinem Auge vorbeischlug. »Warum?«, fragte er, doch er erkannte sogleich, dass er damit die Möglichkeit zu einer Diskussion eröffnete. Bevor Liz reagieren konnte, fügte er hinzu: »Das ist weder der Ort noch der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden.«

      Aber natürlich ließ sich Liz so einfach nicht von dem Thema abbringen. »Gibt es denn je einen richtigen Zeitpunkt?«

      Ben kämpfte das Aufwallen unwillkommener Emotionen nieder. Eine Notwenigkeit, die im Laufe der letzten Tage wieder und wieder aufgekommen war. Nach seinem Montag mit Liz, der so desaströs begonnen hatte, war Ben darum bemüht gewesen, wieder zur Normalität zurückzufinden. Die Labilität seiner frühen Kindheit lag in der Vergangenheit. Und ebenso sollte es möglichst schnell mit dieser neuen Episode geschehen. Das war zumindest der Plan. Die Umsetzung ließ zu Bens größtem Missfallen allerding zu wünschen übrig.

      Und nun musste ihn Liz schon wieder auf eben das Thema stoßen, welches er unbedingt vergessen wollte.

      Sie konnte nicht wissen, wie empfindlich er zurzeit tatsächlich war, rief sich Ben zu Bewusstsein. Und sie sollte es auch keinesfalls herausfinden. So versuchte er zu scherzen: »In achtzig Jahren werde ich bei Sonnenuntergang unter den zwei Linden stehen und dem Geheul eines Wolfsjungen lauschen. Dann kannst du mich gerne nochmal darauf ansprechen.« Nur schwer gelang es ihm, die Schärfe aus seiner Stimme zu nehmen. Liz’ Frage war nicht nur unwillkommen, sondern auch sinnlos. Denn sie wusste sehr wohl, dass er sich an nichts von dem erinnerte, was geschehen war, bevor er damals im Krankenhaus aufwachte.

      »Halt. Bleibt mal kurz stehen«, meldete sich Arne von hinten zu Wort und fing zwei verwunderte Blicke auf. Er deutete zu einem Ast über ihren Köpfen. »Ein Rotkehlchen«, sagte er in dem offensichtlichen Bestreben, die Anspannung zwischen Ben und Liz zu lösen.

      Jetzt entdeckte auch Ben den kleinen Vogel, der mit wachsamen Augen zu ihnen hinunterblickte, ohne jedoch die Flucht zu ergreifen.

      »Süß«, flüsterte Liz wie das reinste Klischee einer jungen Frau, die sich einem kleinen, flauschigen, niedlichen Tier gegenüber sah, und auf einmal musste Ben laut lachen. Aufgeschreckt verschwand der Vogel mit wenigen Flügelschlägen zwischen dem Blätterdach des Waldes.

      Liz blickte Ben vorwurfsvoll an. »Jetzt hast du ihn verscheucht.«

      Dieser schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf. »Niemals«, sagte er und nahm die Ablenkung als willkommenes Geschenk an. »Vermutlich hat er vielmehr deine Gedanken gelesen und wollte nicht als Kuscheltier in einem kleinen Käfig enden.« Ben hob tadelnd den Zeigefinger. »Ein armes Tierchen. In einem Käfig. Und das von einer Naturschützerin.«

      Liz verengte ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen, aber die nächsten Worte kamen wieder von Arne: »Wie wäre es, wenn wir weitergehen? Ich habe da etwas von einer Lichtung gehört. Und so schön und einladend es hier im Unterholz auch sein mag …«

      Liz verpasste Ben einen Schlag gegen die Hüfte und lächelte Arne an. Ihre Liebenswürdigkeit kannte wie so häufig keine Grenzen. »Also weiter«, sagte sie. Und während Ben noch darüber brütete, dass der Schlag schwach ausgefallen und eigentlich vielmehr ein Tätscheln oder Streicheln gewesen war, setzte Liz sich wieder in Bewegung.

      Schließlich zwischen den eng beieinander stehenden Bäumen hervorzutreten und sich auf einer freiliegenden Grasfläche wiederzufinden, war eine Erleichterung. Doch Ben konnte diese Empfindung nur für einen kurzen Moment genießen. Dann nahm er seine Umgebung in sich auf und ihm war, als würde sein Herz von einer eisigen Faust umschlossen. Wie angewurzelt blieb Ben am Ende des Pfades stehen und starrte auf den See, die Bäume am Rand des Ufers und … Und die kleine Hütte zur rechten Seite. Dies war die Landschaft aus seinen Träumen. Der Stoff seiner Albträume.

      Liz und Arne hatten den See fast schon erreicht, als sie merkten, dass Ben ihnen nicht gefolgt war. Arne setzte an, etwas zu sagen. In dem Augenblick erwachte Ben aus seiner Starre und stürzte auf Liz zu. »Du!«

      »Ja?« Ihr unschuldiger Blick hätte kleine Kinder töten können.

      »Was soll das?« Für einen kurzen Moment fühlte Ben sich von einem Schwindelgefühl ergriffen. »Was. Soll. Das.« Wiederholte er und betonte jedes einzelne Wort, als wolle er es packen und Liz entgegenschleudern.

      Seine Brust begann zu jucken und seine Schläfen pochten unangenehm.

      Nun erklärte sich die Nervosität, die Liz zuvor unbeabsichtigt hatte durchscheinen lassen. Ben fixierte seine Freundin mit einem brennenden Blick und sie wich tatsächlich einen Schritt zurück.

      »Komm schon, Ben«, sagte Liz. »Ich dachte mir, dir würde das hier vielleicht helfen.«

      »Dachtest du das?«

      »Außerdem hast du doch gesagt, du würdest dich an nichts mehr erinnern.«

      »Woher weißt du von diesem Ort?« Bens Stimme drang dumpf und aus weiter Ferne zu ihm hindurch, während er sich in den Fängen einer unwillkommenen Erkenntnis fand. Was sich ihm in seinem Traum vollkommen entzogen hatte, stand ihm nun klar vor Augen: An diesem Ort hatte man ihn und seinen Großvater aufgefunden. Ben mochte sich noch immer nicht an dieses Ereignis erinnern und doch wusste er mit erschreckender Klarheit, dass es hier stattgefunden hatte. Nicht alle Details seiner Albträume konnten der Realität gänzlich fern sein. Eine logische und gänzlich unwillkommene Einsicht. Ben schob sie so weit von sich wie möglich. Und doch schnellte sein Blick in Richtung der Bäume am gegenüberliegenden Seeufer. Hatte er dort die Schemen eines roten Vogels gesehen? Im gleichen Augenblick, in dem dieser Gedanke durch seinen Kopf schoss, wurde ihm schon klar, wie lächerlich er sich aufführte. In einem Wald waren zumeist Vögel zu finden und manchmal sah man diese auch. So zum Beispiel Rotkehlchen. Deren Kehle mochte mehr orange denn rot sein. Aber welchen Unterschied machte das schon?

      Erst wenige Sekunden waren vergangen, seit Ben auf Liz zugestürmt war, doch ihm erschien es wie eine halbe Ewigkeit. Er atmete ruhig und gleichmäßig, folgte den alten Anweisungen eines noch nicht gänzlich vergessenen Arztes. Vier Sekunden einatmen, die Luft sieben Sekunden halten, acht Sekunden wieder ausatmen. Und wiederholen. Nur langsam begann sich sein Herzschlag zu beruhigen.

      Arne räusperte sich neben ihm. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er, als sei die Antwort nicht vollkommen offensichtlich.

      »Die gute Liz hielt es für notwendig, mich in eine Situation zu bringen, in die ich nicht kommen wollte. Ansonsten ist alles in bester Ordnung. Könnte gar nicht perfekter sein.« Nun gab sich Ben keine Mühe mehr, die Wut in seiner Stimme zu unterdrücken.

      »Freiwillig wärst du niemals hierhergekommen.« Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte sie Ben, die typische Sturheit in ihrem Blick. Sie schien sich gleichermaßen im Recht und im Unrecht zu fühlen. »Du musst diesen Schritt tun, um endlich mit deiner Vergangenheit abschließen zu können«, fügte sie hinzu.

      »Und selbstverständlich ist all das deine Entscheidung und nicht meine«, presste Ben zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Diesmal ließ er Liz nicht zu Wort kommen. »Woher weißt du von diesem Ort?«, hakte er zum