»Papa? Wieso denn Papa? Das Kind ist völlig verwirrt. Ich denke, wir brauchen nicht nur einen Orthopäden, sondern auch einen Psychiater.« Heimlich hoffte Braun, daß Connys Beschwerden ernsterer Natur waren. Vielleicht mußte man das Kind sogar für einige Wochen in eine Klinik geben. Etwas Besseres konnte aus Brauns Sicht eigentlich nicht passieren. Denn in dieser Zeit würde ihm Gudrun endlich ganz allein ge-hören.
Die junge Frau setzte sich neben ihre kleine Tochter auf die Couch und legte zärtlich den Arm um das Kind.
»Mein armer kleiner Schatz. Hoffentlich kannst du bald wieder gehen. Wir wollten doch am Wochenende miteinander ins Freizeitparadies.«
Die blauen Augen des kleinen Mädchens blitzten. Das Freizeitparadies war eine Einrichtung hauptsächlich für Kinder. »Au, ja! Das sind ja noch drei Tage, da ist mein Fuß wieder heil. Können wir den Papa mitnehmen? Du magst das doch?« Conny strahlte Jens an, der etwas verlegen die Hände in die Taschen seiner Jeans schob.
Gudrun sah verständnislos auf den Sportlehrer, dann wieder auf ihr Kind. Sie erinnerte sich an das Gespräch, das sie am Abend zuvor geführt hatten. Dies war also der Mann, den sich Conny als Vater wünschte. Doch wie kam sie dazu, ihn ungeniert ›Papa‹ zu nennen? Sie mußte doch wissen, daß dies nicht ging.
»Das Kind ist total verwirrt.« Anklagend sah Udo auf Jens, der ihn um fast einen Kopf an Größe überragte.
»Entschuldigen Sie«, murmelte Gudrun, der die Sache peinlich war. Zweifellos wollte Conny mit ihrem Verhalten etwas erzwingen, das eigentlich undenkbar war.
Udo hatte ganz andere Ideen. Er sah die Möglichkeit, sich vor
Gudrun aufzuspielen und dem jungen Lehrer gleichzeitig etwas anzuhängen, das er nur schwer wieder loswerden würde.
»Ich habe den Eindruck, daß wir uns nicht zu entschuldigen brauchen. Wer weiß, was da vorgefallen ist. Die Sache muß geklärt werden. Schließlich ist ein normales, gesundes und intelligentes Kind wie Cornelia nicht so einfach zu verwirren. Es müssen schon schlimme Dinge passieren, ehe ein Kind so reagiert.« Die Gewißheit, es nicht mit Peter Simon, Connys Vater, zu tun zu haben, gab Udo Auftrieb.
Jens wußte sofort, wie gefährlich diese Anspielung für ihn war. Er konnte die eben angetretene Stelle wieder verlieren. Dabei war er doch völlig unschuldig.
»Es ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen, gar nichts«, verteidigte sich Jens höflich. »Kleine Verletzungen beim Sport sind keine Seltenheit, und sonst war wirklich nichts.« Jens lächelte etwas hilflos.
Gudrun glaubte dem jungen Lehrer, während Udo die Gelegenheit wahrnahm, sich noch mehr aufzuspielen.
»Eine andere Antwort habe ich von Ihnen nicht erwartet. Aber diese Lügen werden Ihnen nicht helfen. Die Angelegenheit muß überprüft werden und zwar sehr genau. Ich werde die Schulbehörde informieren.« Udo war überzeugt davon, Gudrun mit diesen Drohungen zu imponieren. Daß es ihm dabei gar nicht um das Kind, sondern um die Ausschaltung des Konkurrenten ging, konnte sie ja nicht wissen.
»Mein Papa ist lieb, ganz lieb«, mischte sich Conny ein, die zwar nicht genau wußte, was Udos Anschuldigungen bedeuteten, die aber trotzdem die Feindseligkeit spürte.
»Sie haben das Kind ganz schön eingeschüchtert. Aber es wird Ihnen nichts nützen«, prohezeite Udo und kam sich dabei richtig gut vor.
»Ich denke, daß ich zuerst mit meiner kleinen Tochter reden sollte«, versuchte Gudrun, die Verdächtigungen diplomatischer abzuschwächen. Ihr war klar, daß Jens Seeger die Wahrheit sagte. Das Problem lag bei Conny und damit natürlich auch bei ihr, Gudrun. Sie hatte bisher angenommen, daß ihr Kind den Vater nicht vermisse. Jetzt zeigte sich, daß ihre Meinung falsch war. Conny brauchte jetzt ohnehin Ruhe. »Danke, daß Sie meine Tochter hergebracht haben.« Gudrun reichte Seeger die Hand, was Udo mit grimmigem Blick verfolgte.
Jens verneigte sich wie ein gut erzogener Junge, winkte Conny verstohlen zu und verließ rasch den Raum. Draußen prallte er mit der Haushälterin zusammen, die neugierig gelauscht hatte.
»Oh, Entschuldigung.« Jens bewahrte die ältere Frau durch einen raschen Griff vor dem Fallen. Dann aber hatte er es noch eiliger. Dabei waren es nicht Udos unverschämte Drohungen, die ihn fast fluchtartig das Haus verlassen ließen, sondern Gudruns zurückhaltende Freundlichkeit. Diese Frau gefiel ihm sehr. Doch daran durfte er nicht denken.
*
Gudrun wartete, bis auch Udo gegangen war.
»Den Kerl greife ich mir«, hatte er noch mehrmals gedroht, bis ihn Gudrun bat, diese Sache ihr zu überlassen. Daraufhin war Udo beleidigt abgezogen. Gudrun machte sich keine Gedanken darüber.
Ihre Sorge galt Conny.
»Ich möchte so gerne, daß der Papa mitkommt ins Freizeitparadies. Mit ihm ist es bestimmt ganz lustig«, schwärmte das Kind, als Gudrun zurückkam.
Sie hatte Udo zur Tür begleitet und war sogar bereit gewesen, ihm einen Abschiedskuß zu geben, was er aber übersah. Gudrun war nicht traurig darüber. In dem Moment, da sie sich wieder neben Conny setzte, war Udo sowieso vergessen.
Streng sah Gudrun die Kleine an. »Wie kommst du dazu, deinen Sportlehrer ›Papa‹ zu nennen? Du weißt doch ganz genau, daß er es nicht ist.«
»Weiß ich nicht«, behauptete Conny und schob schmollend die Unterlippe vor. »Wenn du sagst, daß Udo mein Papa werden kann, dann kann er es doch auch. Und es macht doch nichts, wenn ich jetzt schon Papa zu ihm sage.«
Gudrun seufzte. »Dieses Wort hat eine ganz bestimmte Bedeutung, Conny. Das weißt du doch. Und du weißt auch, daß man
es nicht willkürlich gebrauchen kann.«
»Mach ich ja nicht. Ich sag’ das nur zu ihm. Du hast selbst gemeint, daß ich einen Papa brauche.« Furchtlos sah Conny ihre Mami an.
Gudrun erinnerte sich daran, daß ihr die kleine Tochter eigentlich nie Schwierigkeiten gemacht hatte. Sie war stets folgsam, einsichtig und leicht zu leiten. Zum ersten Mal tauchten Probleme auf. »Du hast vergessen, Conny, daß es immer die Mutter ist, die den Vater ihrer Kinder aussucht, nicht umgekehrt.«
»Warum? Gefällt dir mein Sportlehrer nicht?«
Gudrun lächelte nachsichtig. »Er ist nett, gewiß. Aber zum einen kenne ich ihn gar nicht, zum anderen brauche ich einen Partner, dem ich die Leitung unseres Unternehmens anvertrauen kann.«
Im nächsten Moment zeigte sich, daß Conny keineswegs verwirrt war, wie Udo das behauptet hatte. Im Gegenteil, sie argumentierte recht geschickt und mit der Logik einer Neunjährigen. »Was ist denn wichtiger, Mami, die Fabrik oder wir beide? Udo ist vielleicht besser für die Fabrik, aber mit Jens haben wir bestimmt viel mehr Spaß.«
Dem konnte Gudrun nicht widersprechen. »Trotzdem kannst du ihn nicht einfach Papa nennen«, kam sie auf ihr Anliegen zurück.
»Er ist mein Papi!« behauptete das Kind bockig.
»Dein Papa lebt auf Kuba und leitet dort ein Hotel«, erklärte
Gudrun sehr bestimmt.
»Das sagst du doch nur so. Jedes Kind hat einen Papa, hast du mir selbst erzählt. Und mein Papa hat mich eben hergebracht.«
Liebevoll legte Gudrun den Arm um die Schultern ihres Kindes und sah ihm in die Augen. »Bitte, Schatz, sei vernünftig. Du bist doch ein kluges Mädchen und weißt genau, daß man solche Dinge nicht erzwingen kann. Versprich mir, daß du deinen Sportlehrer nie mehr Papa nennst. Bitte, Conny.«
»Ich will aber auch einen Papa haben wie die Sabine und die anderen Mädchen in meiner Klasse.« Conny ließ den Kopf hängen.
»Ich verstehe dich ja, Kleines«, räumte Gudrun schuldbewußt ein. Sie hatte tatsächlich versäumt, was in anderen Familien selbstverständlich war: nämlich dafür zu sorgen, daß Cornelia Kontakt mit