»Udo?« fragte Conny erschrocken.
»Er leitet das Werk für uns, und er wäre dir bestimmt ein guter Vater«, antwortete Gudrun, von ihren Worten selbst nicht überzeugt.
Conny schnappte nach Luft. Ihre großen Kinderaugen wurden kugelrund. »Aber… aber… ich habe doch einen Vater. Der auf dem Hochzeitsfoto, das du mir mal gezeigt hast.«
Gudrun wurde nicht gerne an diesen Abschnitt ihres Lebens erinnert. Peter Simon war ein Luftikus, der ihr viel versprochen, aber nichts gehalten hatte. Als ihm wegen hoher Spielschulden der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, setzte er sich nach Mexiko, in die Heimat seiner Mutter, ab. Damals waren Gudrun und er erst knapp zwei Jahre verheiratet, und sie wäre wohl mit ihm gegangen, hätte sie sich nicht um ihre kränklichen Eltern und um die Fabrik kümmern müssen. Daß Peter sie belogen hatte, erfuhr sie erst, als er schon weg war. Die Ehe wurde geschieden, und Gudrun war froh, daß sie mit ihrem Ex-Mann nichts mehr zu tun hatte. Über all das hatte sie mit Conny noch nie gesprochen, aber es wurde wohl Zeit, daß sie es tat.
»Ja, Peter Simon ist dein leiblicher Vater. Nach der Scheidung habe ich meinen Mädchennamen wieder angenommen, deshalb heißt du Eschenbach. Das ist jetzt acht Jahre her, und wir haben nie mehr etwas von ihm gehört. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Dein Vater hat eine Mexikanerin geheiratet und ist als Hotelier nach Kuba gegangen. Das ist alles, was ich weiß. Deshalb ist es gut, wenn wir ihn einfach vergessen.«
»Und warum brauche ich einen Vater?« fragte das Kind, von Gud-runs Schilderung wenig beeindruckt. »Wir kommen doch auch allein zurecht.« Trotzig schob Conny die Unterlippe vor.
»Es ist viel leichter, wenn da ein Mann ist, der sich um alles kümmert. Um die Fabrik zum Beispiel, um das Haus, den Garten, das Auto und auch um uns beide. Er wird uns in den Urlaub begleiten, wird Sport mit dir machen. Skifahren, Schwimmen, Waldläufe…«
»Der Udo?« unterbrach Conny ihre Mutter. »Der ist doch viel zu faul. Jeden Meter fährt er mit dem Auto. Außerdem trägt er immer nur die blöden Anzüge. Darin kann er sich sowieso nicht bewegen. Nein, der Udo ist völlig unsportlich.«
»Dann macht er eben Spiele mit dir«, versuchte Gudrun ihre unvorsichtige Äußerung zu verbessern.
»Mag ich aber nicht. Mit dem Udo hab’ ich nichts am Hut. Der ist blöd.«
»Conny!« mahnte Gudrun vorwurfsvoll. »Du kannst das nicht beurteilen. Beruflich ist er auf jeden Fall sehr tüchtig. Er nimmt mir sehr viel Arbeit ab und ist immer da, wenn ich ihn brauche.«
»Aber deshalb brauchst du ihn doch nicht zu heiraten«, schnaubte Conny altklug. »Du bezahlst ihn doch.«
»Es gibt Dinge, die man mit Geld nicht abgelten kann. Vertrauen gehört dazu, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Sympathie.« Gudruns Stimme fehlte die Festigkeit, denn sie war von ihren Aussagen selbst nicht ganz überzeugt.
Um so leidenschaftlicher antwortete ihre kleine Tochter. »Der Udo tut doch nur so, als würde er dich mögen. Merkst du das denn nicht? Bloß, weil der Blumen bringt, ist er noch lange kein guter Mensch. Und mein Papa wird er auch nicht.«
»Das wirst du nicht bestimmen, Conny«, gab Gudrun verärgert zurück. Normalerweise war sie mit ihrer kleinen Tochter stets einer Meinung. Daß sich Cornelia jetzt ihren Plänen widersetzte, überraschte sie.
Conny erschrak. Sie hatte ihre Mutter nicht kränken wollen.
»Ich hab’ ja nichts dagegen, einen Vater zu haben wie die anderen Kinder. Aber nicht Udo! Bei uns an der Schule ist ein junger Sportlehrer. Ihn hätte ich viel lieber als Papa. Er ist immer lustig und macht keine so doofen Übungen wie die Lehrerin, die er vertritt. Wir mögen ihn alle«, schwärmte Conny lebhaft.
Gudrun gab keine Antwort, denn sie hing ihren eigenen Gedanken nach. So erzählte Conny weiter. »Er heißt Jens. Jens Seeger. Wenn er durch die Tür der Sporthalle geht, muß er sich bücken, so groß ist er. Und blond. Blaue Augen hat er auch. Die Sabine sagt, wenn sie alt genug ist, heiratet sie ihn. Aber dann ist er sicher schon ein Opa, weil er schon jetzt dreiunddreißig ist. Ist das alt, Mami? Zu alt? Ich meine für dich.«
Gudrun blinzelte verunsichert. »Was erzählst du da«, murmelte sie kopfschüttelnd.
»Er wäre der richtige Papa für uns, echt.«
Gudrun seufzte. »Als ich ein kleines Mädchen war, hab’ ich für meinen Religionslehrer geschwärmt. Das war so ähnlich wie bei dir jetzt. Daß ich keinen Sportlehrer heiraten kann, weißt du doch. Wir haben eine Fabrik, kein Fitneßstudio.«
»Ich kann ihn doch mal fragen, ob er auch…«
»Bitte, Conny, schlag dir das aus dem Kopf. Wir brauchen uns nicht mehr darüber zu unterhalten. Ist das klar?«
»Warum?«
Normalerweise gab Gudrun ihrem Töchterchen auf jede Frage eine vernünftige Antwort. Diesmal blieb sie die Erwiderung schuldig. »Es ist schon spät. Du mußt schlafen, Conny. Träume etwas Schönes!« Gudrun gab dem kleinen Mädchen einen Kuß auf die Stirn, richtete sich auf und verließ das Kinderzimmer.
»Von Jens. Ich träum’ von Jens Seeger«, murmelte Conny und drehte sich zur Seite.
*
»Das ist mein Papa«, tuschelte Conny ihrer Freundin Sabine zu, als Jens Seeger am nächsten Morgen in die Turnhalle kam.
Diesmal vergaß er, den Kopf einzuziehen, und rannte mit der Stirn prompt gegen den Türrahmen aus Stahl.
Die Mitschüler kicherten, Sabine und Conny bewunderten ihr Idol noch mehr, denn Jens gab keinen einzigen Schmerzenslaut von sich.
»Wie kommst du denn darauf?« fragte Sabine ein bißchen mißgünstig zurück.
»Weil es stimmt.« Conny hatte von der Vaterschaft ihres Sportlehrers zwar nur geträumt, war aber fest entschlossen, sich von dieser Version nicht mehr abbringen zu lassen.
»Kann ja gar nicht sein«, murrte Sabine. »Du heißt Eschenbach und er Seeger. Bäh!« Blitzschnell streckte Sabine ihrer Freundin die Zunge raus.
»Das ist doch nur, weil wir den Mädchennamen meiner Mutti angenommen haben.« Conny war sich ihrer Sache sehr sicher.
»Und warum kennt er dich nicht?« Sabine verzog das hübsche Gesichtchen zu einer bösen Fratze.
»Weil sie getrennt leben, meine Eltern. Aber vielleicht heiraten sie wieder.«
»Du bist ja nicht ganz dicht! Den Schmarren kannst du erzählen, wem du willst, aber nicht mir.« Sabine, sonst recht gutmütig und für jeden Spaß zu haben, wandte sich gekränkt ab. Sie empfand die Behauptung ihrer Freundin als Provokation. Denn den jungen Sportlehrer fanden sie alle ›super‹, und es war nicht fair, daß Conny eine Sonderstellung einnehmen wollte.
Auf Seegers Anweisung hatten sich die Mädchen inzwischen im Kreis aufgestellt. In der Mitte befanden sich zwei dicke schwarze Striche am Boden. Jeweils zwei Mädchen sollten nun daran entlang hüpfen, die Schnellere war Sieger. Die Kandidatinnen wurden von den Umstehenden angefeuert.
Conny drängte sich in den Keis. Ihre Aufmerksamkeit galt aber nicht den hüpfenden Mitschülerinnen, sondern Jens Seeger. Sie war nicht die einzige, die ihn unablässig beobachtete, denn Jens war ein Sonnyboy, der alle Herzen im Sturm gewann. Wenn er lachte, wurde es auch im kältesten Raum plötzlich warm und gemütlich.
Die schwärmerische Verehrung der Schülerinnen der dritten Klasse entging auch Jens nicht. Sie war ihm peinlich, denn es war gar nicht einfach, sich in solcher Situation richtig zu verhalten. Dem jungen Sportlehrer fehlten entsprechende Erfahrungen.
So hoffte er, daß die erkrankte Kollegin bald wieder zurück sein würde.
»Claudia schummelt!« schrien einige Mädchen empört.
Auch Jens hatte es gesehen. Solche Verstöße ahndete er bei Jungen mit Disqualifikation. Bei Mädchen war er nachsichtiger und begnügte sich mit einer Verwarnung.