Wenn ich nicht im Augenblick Deine grauen Augen vor mir sähe – mit angstvollem Entsetzen auf mich gerichtet, so wäre ich schnöde genug, diesen Brief zu schließen und ihn mit kaltem Lächeln der Post zu übergeben. Aber ich muß befürchten, dann gehst Du wieder der Tante Helen durch und kommst ganz Reue am Ende mit der Kupferberger Abendpost an, dem fürchterlichsten Fortbewegungsmittel der Welt. Darum schreibe ich nun auf der zweiten Seite und berichte Dir weiter. Die Köchin muß Dich für geizig halten, denn seit Du fort bist, führe ich ein Schlemmerleben. Heute habe ich mich in einsamer Verzweiflung durch ein ganzes Diner hindurchgegessen. Infolgedessen war ich heute nachmittag zu allem zu faul, und nun zünde ich mir schon die zweite Zigarre an. Ich räuchere Dir sogar Dein Heiligtum, Deinen Schmollwinkel, ein. Und dabei siehst Du mir von allen Wänden her zu! Dornrose!
Etwas von Dir ist in den Räumen hängen geblieben, und wie ich durch meinen blauen Rauch starre, muß ich Dich immer mehr sehen und bedenken. Du schlimme Rose, und dabei wirst Du immer schöner! Es ist notwendig, daß Du kommst und Deine leibhaftige Erscheinung das Phantasiebild vertreibt. Es fing schon an, sich einen netten kleinen Heiligenschein wachsen zu lassen. Und – kannst Du das verlangen – Durchgängerin?
Nun stecke ich doch schon an der Tinte, und so sollst Du noch erfahren, daß ich heute in der Kirche war. Im Kirchenstuhl. Es hat eine nicht geringe Aufregung in der Gemeinde verursacht, bis in den Pfarrstuhl hinein. Aber ich gedenke die Bußübung nicht so bald zu wiederholen. Die Thorsteiner sind alle lang gewesen, und sie müssen es als notwendiges Ingredienz ihrer Andacht angesehen haben, ihre langen Beine in den engsten Kasten von Kirchenstuhl zu pressen. Und eiskalt war es auch noch dazu. Überhaupt Andacht. Sie scheint in unseren Kirchen hier als störend mit der Wurzel ausgerottet zu sein. Der Herr Pfarrer gab sich die redlichste Mühe und sprach recht gut, soviel ich davon verstand, aber die Kirche war eiskalt, und eiskalt blieb auch ich. Als ganz verstockter und verhärteter Sünder wandelte ich nach Hause. Ich fühlte mich an Leib und Seele durchfroren, so daß ich mich ins Atelier flüchtete, abschloß, den bewußten Vorhang zog und mich vor unserem Bild auf Deinem Stuhl ausstreckte und eine Zigarre anzündete. Es ist schön, das Bild. Wenn ich das sage, so ist das nicht eitel und Stolz etwa, sondern eher das Gegenteil. Wenn ich so ein Wort in den Mund zu nehmen wagte, möchte ich eher demütig sagen. Man muß ja jetzt als moderner Mensch das schöne Wort Unterbewußtsein benützen, die Goethesche Dumpfheit gefällt mir aber viel besser. Aus dieser heraus ist es gemalt. Ich habe manches jetzt erst daran entdeckt. Plötzlich empfand ich es als profan, vor Deiner Holdseligkeit mit einer Zigarre zu sitzen. Ich schämte mich und legte sie weg.
Dann entdeckte ich Deine linke Hand, die den Brunnenrand umschließt. Und da war mir's, als zöge mir jemand eine Binde von den Augen hinweg. Ich muß es doch gesehen haben, denn ich habe es gemalt, und hab's doch nicht gesehen. Wie fest die Hand sich an dem Brunnenrand hält. Wie ein Beben ist's an ihr, und das läuft hinauf die Linie des Armes entlang und spannt sich wie ein ganz feiner Schatten unter der Brust hinüber. Da wußte ich, was es Dich gekostet haben mag. Und ich sah Dich erbeben unter meinem Blick, und Deine stolze reine Seele sah ich sich beugen vor mir, ihre Krone vom Haupte nehmen und sie mir darreichen. Ein junger Baum im Maienglanz ist schön. – Wie schön ist die Lilie, wenn ihre weißen, dufterfüllten Kelche im Morgenwinde beben. Aber wie kalt und glatt ist ihr Weiß gegen das beseelte, von rotem, warmem Feuer durchglühte Weiß Deiner Arme. Wie matt das schöne Gelb der Staubfäden gegen den metallischen Glanz Deines Haares. Die Schönheit aus allen Naturreichen hat der Schöpfer auf sein Menschengebilde zusammengerafft.
Es ziemt sich wohl, daß der Braunecker vor der Fee auf die Knie sinkt, andächtig.
Er ahnt den Schöpfer, ganz abgesehen davon, was den Mann im tiefsten Grund seiner Seele vor euch niederzwingt.
Ich blieb vor dem Bilde sitzen, bis die grauen Schatten aus allen Ecken krochen und das Spinnweb der Dämmerung mich ganz versponnen hatte. So bin ich doch noch zu meiner Andacht gekommen. Tante Ulrike würde zwar die Art und Weise nicht billigen und sie heidnisch finden. Ich bin hie und da gespannt, ob ich mich zu einer höheren Erkenntnisstufe emporschwingen werde. Vorderhand muß ich schon so verbraucht werden.
So, nun bist Du gekratzt und gestreichelt worden, vom letzteren für Erziehungszwecke zu viel, und weißt, was Du zu tun hast. Dein Harro.« – – –
Tante Helen war trostlos, als ihr Rosmarie mitteilte, daß sie mit dem nächsten Zuge nach Hause fahren müsse. Sie ächzte über den schnöden Egoismus der Ehemänner und über die gänzliche Wehrlosigkeit ihrer Nichte.
»Du solltest doch nicht von vornherein ganz geduldige Ehesklavin sein. Und wenn man den Männern allen Willen tut, so macht man auch den anständigsten zum Haustyrannen. Und dein Harro hat Talent dazu, man sieht es an seinem steifen Nacken. Telegraphiere: Komme Samstag. Heute ist Donnerstag. Das zeigt dann ein Eingehen auf seine Wünsche und zugleich eine Verwahrung gegen zu diktatorische Befehle. So macht es eine kluge Frau, die weiß, was sie sich und ihrer halblahmen Tante schuldig ist.«
»Tante Helen,« flehte Rosmarie, »du bist ja gar nicht mehr so lahm, ich nehme dich mit nach Thorstein.«
»Als ob ich Lust hätte, in eurem Liebesnest den unbequemen Dritten zu spielen! Müßt ihr euch denn immer betanten lassen! Das finde ich stillos. Harro würde eine sehr schlechte Freude haben. Nein, du bleibst und zeigst Charakter und Selbständigkeit.«
Rosmarie lächelt: »Und tue mit Charakter und Selbständigkeit, was Tante Helen will.«
»Rosmarie,« klagte die Tante, »aus dir spricht bereits der trotzige Thorsteiner. Gehe nur schnell zu ihm und verthorsteinere ganz.«
Alles Flehen hilft nichts. Rosmarie erreicht noch den Dreiuhrzug, und nachts um zehn Uhr fährt das Braunecker Coupé in die Thorsteiner Schloßpforte, die der Märt aufreißt.
»Märt, guten Abend, und wo ist der Herr Graf?«
»Der Herr Graf ist heute nachmittag auf den Kupferberger Bahnhof gefahren.« »Hat denn der Herr mein Telegramm nicht mehr bekommen?«
»Es kam eines um zwei Uhr. Ein Brief ist da ... Durchlaucht.«
Rosmarie eilt in ihr Eßzimmer, der Tisch ist schön für sie gedeckt und geschmückt, auch liegt ein Billett da. –
»Liebe Rosmarie! Ich werde heute eine kleine Reise nach Stuttgart und den umliegenden Gegenden antreten und werde Dir von überallher Nachricht senden. Du nimmst doch mit Postkarten vorlieb? Du weißt, auf Reisen liebe ich lange Schreibereien nicht. Unterhalte Dich gut, und laß unter Deiner Aufsicht, ja nicht ohne sie, das Atelier reinigen. Es hat es hochnotwendig! Herzlich grüßt Dein Harro.«
Rosmarie setzt sich zu einem einsamen Mahl nieder mit einem dumpfen Druck auf dem Herzen. An Tante Helen nur zu denken weigert sich ihr entsetzter Geist. Und die Suppe schmeckt plötzlich salzig. Aber sie mahnt sich zur Ruhe und Abwarten und versucht sich auszudenken, daß die Winterreise für Harro ganz genußreich werden könne. Und morgen bekommt sie wieder Nachricht. Der Morgen bringt außer zwei wehrhaften Thorsteiner Putzweibern, wider die den Kunstgegenständen gegenüber allerdings Vorsicht geboten scheint, eine Postkarte. Sogar mit Ansicht.
»Liebe Rosmarie! Bin gut angekommen. Über Ansicht von Stuttgart schlage Bädeker, Das südliche Deutschland, Seite dreihundertvierundzwanzig nach. Es steht alles darin. Auch die Luft ist gleich dick geblieben, vielleicht noch durch ein Rüchlein Benzin bereichert. Treffe H. Fr. und höre die H-Moll-Messe. Mein Schlafzimmer ist abgeschlossen, weil ich unser großes Bild hineingeflüchtet habe. Unter keinen Umständen aufmachen, da Putzweiber immer Bilder von Staffeleien stoßen. Habe hierin Erfahrung. Dein Harro.«
Merkwürdig, auch Rosmaries Frühstückstee schmeckt salzig. Sie lernt die Karte auswendig, zieht jedoch den Bädeker nicht zu Rate und begibt sich dann an ihr schweres Tagewerk. Lisa entsetzt sich über ihre