Aber Harro streckte seine Hand nicht nach der nächsten Rolle aus und bat leise: »Laß das, Rosmarie, heute abend noch ... ich ... einen Augenblick ...« –
Der Diener trat ins Zimmer, ein Telegramm auf einem Teller, den er dem Fürsten reichte. Der Fürst runzelte die Stirne und riß es auf. Es schien eine Menge Text zu enthalten und sehr komplizierten Inhalts zu sein. Rosmarie sah traurig und fast scheu zu ihrem so veränderten Freund empor und flüsterte:
»Harro, habe ich dir wirklich damit weh getan? Wie konnte ich das ahnen!«
Harro beugt sich über ihre Hand: »Rosmarie, ich danke dir. Aber es überwältigt mich. All die Arbeit, – das Versenken in eine Stimmung, die du so treu festgehalten hast, durch all die Kleinarbeit ...«
Der Fürst war aus dem Zimmer gegangen und hatte eine Entschuldigung gemurmelt. Er wollte wohl eine Antwort schreiben.
Eine Weile war es so still, daß man durch die Nacht den leisen Atem des Meeres hören konnte, über Rosmaries blasses Gesicht liefen langsam große Tränen; sie zuckte nicht dabei, es war ein lautloses Weinen, wie es nur Menschen weinen, die das stolze einsame Leid kennen.
Harro starrte hinaus in die Sternennacht, die durch Palmen funkelt. Und nun flüstert sie leise: »Harro, sag mir, was habe ich dir denn zuleid getan?«
Über seine mächtige Gestalt geht ein Zucken, er beugt sich, – nun liegt er auf den Knien neben ihrem Lager, und seine Küsse brennen auf ihrer Hand und seine Tränen. Ihre Augen werden groß und dunkel. Ach, was ist ihm? Sie legt wie ein halbscheues Kind eine Hand auf seine Schulter:
»Laß mich es wissen, was dir ist, Harro, ich will doch auch mit dir leiden.«
Da erhebt er sein tränenüberströmtes Antlitz: »Vergib mir, Seele, meine Seele!«
Ach, was ist in seinen Augen? Eine heiße Flamme schlägt über ihr Herz, so schnell, so atemraubend plötzlich, wie ein Sonnenstrahl eine festgeschlossene Knospe trifft und sie öffnet. Aus ihren Augen leuchtet es, und die süße Scham treibt ihr das Blut in die Wangen. Sie macht ihre Hände frei und schlägt sie vor ihr Gesicht. Harro erhebt sich langsam.
»Laß mich deine Augen noch einmal sehen, Geliebte, Holdseligste, und dann will ich gehen ...«
Da läßt sie langsam ihre Hände sinken und schaut zu ihm auf: »Oh, nun gehst du nie wieder von mir, Harro ...«
Er faßt ihre Hände. »Seele – du weißt, daß ich gehen muß.«
Es nahen Schritte ... der Fürst kommt herein. An der Wand lehnt Harro, fahl mit dunkeln Augen, – Rosmarie glühend wie eine Mohnblüte, von der in einem Augenblick die grüne Hülle gefallen, die ihre zarte Herrlichkeit verhüllte ...
»Durchlaucht,« stammelt Harro.
So verklärt, so strahlend von innerer Seligkeit, wie ein junger perlbetauter Morgen, sieht der Fürst sein Kind, seine arme, weiße Rose, die noch vor kurzer Zeit den langsamen schrecklichen Tod ihrem armen Dasein vorgezogen hätte. Was er in den letzten Wochen durchgekämpft, an stolzen Hoffnungen begraben und mit sich allein ausgetragen hat, das wissen die beiden nicht. Er legt seine Hand auf Harros Schulter, der darunter zusammenzuckt, und sagt:
»Lieber Harro, ich finde, daß du Rosmarie eigentlich recht lange hast warten lassen!«
»Durchlaucht, das ist unmöglich, das ist ...«
»Harro, wir wollen alles ganz schön und ruhig abmachen. Das Kind dort: Sieh sie dir nur einmal an, wie sie jetzt ihre Flügel in der Sonne breitet, wie du mir damals gesagt. Es ist nichts mit ihr zu wollen ... Aber eines bitte ich dich: Im offnen Hof klopfst du mir keine Steine mehr – –«
Über den Thorsteiner hat sich das Glück wie ein schwerer, lastender, goldener Regen ergossen. Er kann es noch nicht fassen, man muß es ihm erst sagen, daß der Fürst sich schon wochenlang mit dem Gedanken getragen hat, ihm sein Kind, wenn er es nur wollte, zu geben. Wie ihm das klar geworden, daß er nie seine Tochter von dem Thorsteiner werde losreißen können, das erfuhren sie nicht; sie sollten nicht wissen, daß er ihr Gespräch belauscht. Und noch ein Gedanke war es gewesen, der ihn fast wünschen ließ, Harro möge endlich aus seiner Zurückhaltung herausgehen.
Das war die Erkenntnis, daß er seiner Tochter keine Heimat mehr zu bieten habe. Wie ein Blitz hatten Rosmaries Worte ihm sein häusliches Dasein erhellt. Was er sich selbst immer noch verschleiert und verborgen hatte, das stand nun klar vor ihm. Nie würde sein Kind glücklich sein können und gedeihen neben seiner Frau. Wie hatte Charlotte sich verändert, wie war sie hart und anmaßend geworden, hatte sich geweigert, irgend ein Leid mit ihm zu teilen, hatte ihn mit ihrem täglichen Einfluß immer tiefer in die Erbitterung über Rosmarie hineingesteigert.
Eine traurige Jugend für seine Tochter, noch trauriger für ihn selbst, der sie immer missen würde. Er hatte Pläne gehabt, glänzende Pläne, aber daß Rosmarie sich niemals zwingen lassen würde, das war ihm auch klar geworden. Jene Geschichte von den sich begegnenden Seelen, die keine körperliche Trennung scheiden konnte ... Die eine Seele ging suchen, durch weite Länder, und die andere hatte die Botschaft empfangen. Ihren Leib konnte er halten, ihre Seele niemals. Die entschlüpfte ihm und ging auf ihre Reise und fand vielleicht nicht mehr den Weg zurück. Und wie Rosmaries Kerkermeister wäre er sich dabei vorgekommen, wenn er einmal einen wirklichen Zwang auf sie hatte ausüben müssen.
Und zu all dem war noch das Leben in jener warmen und leichten Luft gekommen, die seine Tochter umgab, und die ihm viele irdische Dinge in anderem Lichte zeigte. Nie noch war er so lange und ausschließlich mit ihr zusammen gewesen und noch dazu mit einem von großer Sorge erschütterten Herzen.
Wenn nun sein Geschlecht, sein alter Name doch mit ihm zu Ende gingen, so sollte dem letzten Sprossen noch einmal ein Glück beschert sein. Und bei dem Gedanken war es ihm so wohl geworden, als schaffte er sich noch ein letztes Eckchen Glück und Freude, und einen Winkel, wohin er aus den Stürmen und der Eisluft der eigenen Ehe flüchten könne.
Es waren auch andere Stunden gekommen, wo es einen harten Kampf mit seinem Stolze galt und er Harros Leben nicht ohne brennende Qual überdenken konnte.
Die bösen Zungen, die sich auf ihn stürzen würden, der Hohn und Spott seiner Welt, die es nie begreifen würde, daß er die einzige Tochter freiwillig einem armen Manne gegeben. Aber alles ward überwunden unter dem Einfluß der holden Nähe und in der Entfernung von seiner gewohnten Umgebung, seiner Beschäftigung. Wie das Getriebe der Menschenwesen sich in hoher, reiner Bergluft so anders ausnimmt.
Und nun war eine Ruhe über ihn gekommen, die nicht einmal das eingelaufene Telegramm zerstören konnte, das ihm für den nächsten Morgen mit sehr viel unnötigen Worten die Ankunft der Fürstin anmeldete.
Irgend etwas mußte sie in Berlin erzürnt haben, daß ihr der Einfall gekommen war, zu entfliehen und ihren täglichen Kampf mit der Langeweile von Berlin nach der Riviera zu verlegen.
Sie konnte dabei so gut die Sehnsucht nach ihrem Manne und die Pflicht, nach der genesenden Tochter zu sehen, hervorheben. – Ein ganz anderer Hauch weht dem Fürsten aus den Worten entgegen, und nun ist es gut, daß alles entschieden ist.
Auf dem Thorsteiner lastet das Glück. Es ist ihm fremd, es ist bedrängend, er wagt kaum Rosmaries weiße Hand zu halten und in ihre selig träumenden Augen zu sehen. Und er sieht sie blasser und blasser werden, er, der die feine Seele kennt wie kein anderer, er weiß, daß bei ihr nur zu schnell die Freude das arme, daran so ungewohnte Herz überwältigt. Und er geht, ehe sie sich überfreut, und küßt noch die weiße kühle Hand und flüstert ihr das selige Wort zu: Auf morgen! Wie ein Träumender geht er dahin unter dem südlichen Sternenhimmel.
Hinunter ans Meer, über ihm funkeln die Sterne, und die Flut atmet leise, wie er über den knirschenden Kies schreitet.
Dunkel