»Die Ehre, Herr Geheimrat, das ist ein Kraut, in ihrer innersten Herzkammer gewachsen. Mit elf Jahren hatte sie schon ein Ehrenwort. Kein Mensch wußte, wie sie zu dem Begriff kam. Ihre Erzieherinnen waren nicht geeignet, Seelenkräfte zu entwickeln, sie dressierten nur.«
»Das muß man wissen, Herr Graf. Ich freue mich, daß Sie Künstler sind. Ich sah es Ihren Augen an, – sofort, aber ich wußte nicht, ob Sie der Kunst auch leben.«
»Mit dem allergrößten Teil meines Herzens. Nur einen Winkel habe ich noch für meine Heimat übrig behalten. Es gab da manchmal schmerzliche Kollision der Pflichten. – Ich weiß, Herr Geheimrat, daß es die im höchsten Sinne nicht geben soll, es sieht aber manchmal verzweifelt so aus. Und nun fangen sich ja die beiden Herzensteile zu versöhnen an.«
»Wie mich das freut, Herr Graf ... Ihre Augen ... Gott segne Ihre Augen.«
Zwanzigstes Kapitel.
Von Königinnen
Der Doktor und der Herr Geheimrat saßen bei ihrem gemeinsamen Frühstück in der kleinen Pension am Strande beisammen. Sie waren allein, die anderen Gäste noch nicht erschienen oder schon fertig. Nur der französische Kellner ging auf und ab. Draußen glänzte ein goldener Sonnenschein auf dem blauen Meere.
»Nun, ich habe nichts anderes erwartet, lieber Doktor, die Prinzessin ist in den besten Händen und gibt sich selbst alle Mühe,« begann der Professor.
Der Doktor klopfte sich ein Ei auf. »In der Medizin sind Sie eben doch Laie, Herr Geheimrat.« »Sie müssen doch mit dem Willen rechnen, der Seelenstimmung überhaupt.«
»Der Fürst hat übrigens schon depeschiert, daß er komme.«
»Sehen Sie, das wird auch gut getan haben, das leugnen Sie nun auch nicht.«
»Ach, hätten Sie den Aquili geholt, was für schöne Reden könnte er jetzt an den Herrn Papa halten ...«
Der junge Doktor verneigte sich gegen einen imaginären Fürsten. »Die besten Aussichten, Durchlaucht, nur eine Frage der Zeit bis zur völligen Genesung. – Herr Geheimrat, Sie haben so gute Zuversicht, Sie müssen mir das Geschäft abnehmen.«
»Bis wann kann der Fürst da sein?«
»Einen Tag und eine Nacht noch.«
»Die Engländerin, hat sie sich blicken lassen?«
»Ja, nach ihrem Kirchgang, den dürfte man ihr nicht nehmen, behauptete die Prinzessin. Ich horchte an der Türe, man muß manchmal horchen ... Sie versicherte, daß sie nur noch in der Religion Trost finde, über die plötzliche ...«
»Plötzlich ist gut.«
»Erkrankung der Prinzessin. Und daß es sicherlich mehr Wert habe, wenn sie ihre Knie beuge ... Die Kniebeuge hörte ich deutlich. Auch ihr Zustand schien mir einer Diagnose bedürftig. Ich möchte auf etwas schließen, was wir in Tübingen das heulende Elend nannten.«
»Und Sie werden wohl damit die Sache getroffen haben. Mit ihr ist nichts zu wollen.«
»Herr Geheimrat,« rief der Doktor mit plötzlicher Wärme, »wenn ich Sie nicht hätte! Ich bin Ihnen sehr dankbar. Und die Prinzeß hat einen Glauben an Sie. Der Freund, der geheimnisvoll wie aus der Versenkung auftauchte, – den möchte ich auch alle Stunden einmal verschreiben. Ich dachte zuerst: Es ist eine Liebesgeschichte, und die Sache kann hochdramatisch werden ... Ich überlegte mir schon: ›Vierter Akt, fünfte Szene, eintritt der hocherzürnte Vater: Treffe ich Sie hier, mein Herr, – wir sprechen uns nachher!‹ – Ich überlegte mir schon: in diesem Falle lade ich alles auf den Herrn Professor der Theologie, Geheimrat Schwarzen, ab. Ich habe niemals Lampen zwischen Löwen gestellt ...«
»Und nun haben Sie eingesehen, daß es keine Liebesgeschichte ist.«
»Wenn überhaupt, dann eine einseitige –«
»Es ist eine alte Freundschaft.«
»Der Graf ist doch nicht alt.«
»Aber die Prinzessin sehr jung.«
»Er versteht die Prinzessin zu behandeln. Ich komme mir dieser jungen Dame gegenüber beständig wie ein blöder Bauernjunge vor.«
»Warum schüchtert Sie eigentlich die Prinzessin so ein – das bin ich von Ihnen gar nicht gewöhnt.«
»Weil ich eine solche Schnauze habe. Nein, Herr Geheimrat, Sie verkennen mich – in mir schlummert die Demut. Prinzessinnen bin ich auch nicht gewöhnt. Es gab die weder auf meinem äußerst nahrhaften väterlichen Bauerngut noch im Jenenser V. C. Auch hat mich meine Praxis noch nicht an Europas Höfe geführt – ich fand die Stellen zu meinem Erstaunen schon besetzt. Aber das ist es nicht. Wenn hohe Damen krank sind, so ist da ein Fall wie der andere – nur der eine vielleicht lukrativer.«
»Ach, damit kommen Sie mir nicht: Sie, mit Ihrem nahrhaften väterlichen Hofe im Hintergrund können sich jede Noblesse leisten. Und müssen's. Wer von diesem Planeten einen großen oder kleinen Teil besitzt, gehört zu den Feldherren.«
»Daß Sie so denken, freut mich riesig, Herr Geheimrat, in der Stille meiner Seele denke ich auch so. Nur darf man's nicht überall laut werden lassen. Bitte, fragen Sie Fräulein Zittelmann – dort geht sie – sie hat wieder ein wahres Ungetüm von Hut auf – ob sie einen Bauernschwiegervater wünscht.«
»Mit einem solchen Gänschen müssen Sie gerade nicht exemplifizieren. Aber ich erfahre immer noch nicht, warum Sie die Prinzessin so einschüchtert. Mir kommt sie bescheiden und fast demütig vor. Sie hebt ja wie die Ottilie in den Wahlverwandtschaften den Herren die Bücher auf.«
»Das wird sie wohl tun. Und sehr anspruchslos. Aber es ist immer, als spreche ich eine andere Sprache ... Ich entschuldige mich fortwährend und wegen allem – der reine Lakai! Sie ist vornehm, sie ist so entsetzlich vornehm! Sagen Sie, ist sie vielleicht zu einer Königin bestimmt?«
»Unmöglich ist es nicht.«
»Also! Nun müssen Sie doch einen kleinen Abstand zwischen einer Majestät und einem Bernhagener Bauernsohn gelten lassen. Meinen Sie, sie verliere auch nur auf Sekunden ihre Hoheit? – Meinen Sie, ich vergäße mich je an der mir so ungewohnten Titulatur? – Sie ist jetzt so schwach, ihren Kopf bringt sie nicht mehr in die Höhe, – ich habe sie quälen müssen. Keinen Augenblick ist sie weniger königlich als den andern. Ich habe mir im Leben nicht ausgedacht, wie Königinnen in solchen Situationen nun wären. Aber ich fühl's immer wieder: So sind Königinnen. Der lange Graf, – der kann mit ihr umgehen. Haben Sie gesehen, wie er ihr den Willen ließ, als sie die Arznei nehmen sollte, und ihr zuredete, sie brauche es nicht zu nehmen, wenn sie nicht wolle ...«
»Ich fand das seltsam. Ich dachte mir, er weiß gar nicht, wie viel daran hängt, ob sie es nimmt oder nicht.«
»Sie haben nur seine Augen nicht gesehen. Ich sah sie zufällig. Die sagten jedenfalls für sie deutlich genug: Du weißt, was du sollst, aber du sollst wissen, daß du deine Freiheit hast.«
»Und gerade in dem Freiheithaben bringt man die schönen und großen Herzen an ihre Pflicht,« sagte der Geheimrat. »Und nun leben Sie wohl, Herr Doktor, ich meine, Sie verstehen recht gut mit Prinzessinnen umzugehen.«
Der Gotthardexpreßzug rast