Er sprang erst auf, als das Brautpaar die flachen Stufen herunterkam und Christof außer Serafinas gesammelten Glückwünschen automatisch die Leine übernahm.
Gleichzeitig streckte Kati die Hände nach Miguel aus, und zur allgemeinen Belustigung gingen sie zu viert den Fotografen entgegen.
Vor dem Portal kam das Paar mit seinem Troß zum Stehen, weil Erich Knobel in wehenden Frackschößen ein Dutzend Kinder dirigierte, die in Dirndkleidern und Kniebundhosen an ein Bild aus alten Lesebüchern erinnerten.
Minutenlang wurde es ganz still.
Dann, auf ein Zeichen ihres Direktors setzten die hellen Stimmen ein, fröhlich, laut und unbekümmert.
»Beim Kronenwirt, da ist heut’ Jubel und Tanz
holla diholla diho!
Die Katrin trägt heut’ ihren heiligen Kranz —
holla diholla dihi —«
Junge und alte, männliche und weibliche Stimmen fielen übermütig ein, der letzte Refrain wurde im gemischten Chor gesungen.
Der Applaus war überwältigend.
Wildfremde Menschen blieben auf der Plaza stehen und klatschten begeistert mit. Chico bellte vor Freude gemeinsam mit etlichen Straßenhunden.
Aus den vielen Fotos, die Christof und Kati später in ihr Album klebten, konnte man den Eindruck gewinnen, ihre Hochzeit wäre ein Volksfest gewesen.
Sie vergaßen keine Einzelheit des denkwürdigen Tages, und selbst Miguel behauptete noch Jahre später, sich an ein Blumensträußchen zu erinnern, das er seinen Eltern abwechselnd unter die Nase hielt, solange, bis Papi zu niesen begann.
*
Zehn Jahre später betrat Achim Unger die Fernsehanstalt, für die er seit kurzem im Vertrieb arbeitete.
Wie so oft verirrte er sich im Labyrinth des Aufnahme- und Sende-Bereichs, der in einer verwirrenden Vielfalt farblicher Abstufungen gehalten war.
Aus einer ockergelb schimmernden Glastür quoll eine Schar halbwüchsiger Jeans-Träger, gefolgt von mürrisch aussehenden Erwachsenen, die blicklos vorwärts strebten.
Zuletzt kam ein Junge, wesentlich kleiner und jünger als die anderen, sagte freundlich »hallo« und trat an Achim vorbei an einen Automaten, aus dem er sich eine Cola zog.
»Du kennst dich ja gut aus hier«, sagte Achim, der unwillkürlich stehengeblieben war.
Der Junge nickte. Er hatte schwarz glänzendes Haar, eine olivbraune Haut und lächelnde runde Kinderaugen.
»Ich war schon zweimal hier zum Proben«, erwiderte er und schlürfte seine Cola, »aber heute war die letzte Aufnahme, die echte. Jetzt brauche ich nicht mehr zu kommen.«
»Was hast du denn gemacht? Theater gespielt?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Das war keine Schau. Das war ein Sprachenwettbewerb.«
»Nanu! Bist du dafür denn schon alt genug?«
Die schwarzen Augen strahlten Achim vergnügt an.
»Klar!«
»Miguel«, rief eine Stimme hinter der halb geöffneten ockergelben Tür, »trink deine Cola aus, wir gehen gleich!«
»Du heißt Miguel?« fragte Achim in plötzlich erwachtem Interesse.
»Ja, Miguel Hersfeld. Ich gehe hier in die Internationale Schule – ah, da kommt meine Mutter ja schon –«
Achim drehte sich um. Bevor er sie erblickte, wußte er, wer sie war. Katharina Busch – seine Jugendliebe. Blond wie eh und je, forsch ausschreitend in ihrem offenen Trenchcoat, eine Papierrolle unter den Arm geklemmt.
Die Hand nach Miguel ausstreckend, stutzte sie sekundenlang und krauste die Stirn.
»Achim«, rief sie, »dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht gesehen!«
»Zuletzt in Montelindo«, entgegnete er mit einem melancholischen Lächeln, »in Battenberg habe ich dich immer verpaßt. Ich komme auch nur noch selten hin. Sag mal, ich gehe doch nicht fehl in der Annahme, daß ich diesen Jungen schon einmal gesehen habe?«
»Ganz richtig, vor fast zehn Jahren, zu Weihnachten. Er war noch ein Baby damals, und du hattest leichte Bedenken, was seine Entwicklung betrifft«, bestätigte Kati lachend.
»Wirklich? Daran erinnere ich mich gar nicht mehr!«
»Ist auch nicht mehr wichtig. Inzwischen muß ich ihn eher bremsen. Ihm machen diese Wettbewerbe zwar viel Spaß – er gewinnt sie immer – aber wir haben ja auch noch anderes zu tun, nicht wahr, Miguel?«
Sie fuhr ihm liebevoll durch seinen schwarzen Haarschopf.
»Du lebst jetzt ganz in Deutschland mit deiner Familie?« erkundigte sich Achim.
»Ja, unser Wohnsitz ist hier. Ab und zu hat Christof in Montelindo zu tun, und wenn es sich gerade gut trifft mit den Ferien, fahren wir mit ihm hinüber. Es ist ja unsere zweite Heimat.«
»Natürlich«, murmelte Achim, »und du? Ich habe gehört, du hast die Schule aufgegeben?«
»Das war nur vorübergehend. Seit Bianca – das ist unsere Tochter – in die erste Klasse geht, unterrichte ich wieder. Deshalb muß ich jetzt auch schleunigst los – mach’s gut, Achim!«
Sie schüttelte seine Hand, legte den Arm um Miguel und schob ihn vor sich her, den breiten, regenbogenfarbigen Korridor entlang.
Achim sah ihnen benommen nach.
Die Begegnung hatte ihn aufgerührt.
Plötzlich kam Miguel noch einmal zurückgetrabt, um den Plastikbecher in den Behälter neben dem Cola-Automaten zu werfen.
Er strahlte Achim aus runden, schwarzen Augen an, hob winkend eine kleine braune Hand und rief: »Adios!«
»Du mußt schon gehen?« fragte Schreinermeister Ruppert Lange seine Tochter. »Und was soll ich tun, wenn der nächste Bewerber kommt?«
Barbara schüttelte den Kopf, sah ihn mit gespieltem Mitleid an und schlüpfte mit einem vernehmlichen Seufzer in ihren Lodenmantel. Es war heute kalt für Ende März, und sie hatte es ziemlich eilig. »Du wirst ihm nahebringen müssen, daß du mir, deiner einzigen Tochter, die große Wohnung über der Werkstatt ausgebaut hast. Damit ich immer bei dir bleibe, kann sie keinem anderen zugestanden werden. Darum muß er, wenn er unbedingt eine Unterkunft braucht, mit einem Kämmerchen im alten Haus vorliebnehmen und als dein Mitbewohner eben alle deine Schwächen ertragen«, neckte sie ihn.
»Und wenn er daraufhin wieder auf die Stellung verzichtet?«
»Dann hast du nichts verloren, Väterchen. Tut mir leid. Ich muß jetzt fahren.« Sie legte sich noch einen leichten Schal um.
Neblig und ungemütlich war es draußen. Der Nebel in den Bergen ließ keinen noch so winzigen Sonnenstrahl durch. Und weil sie spät dran war, mußte sie die kurze Strecke zur Schule mit dem Auto fahren. »Servus! Bis mittags. Ich koch uns dann was Feines.«
»Ohne deinen Beistand finde ich nie einen Gesellen, der später als Meister den Betrieb übernehmen kann«, meinte er gottergeben, winkte ihr aber lächelnd nach, als sie im Hof in ihr Auto stieg und davonfuhr.
Barbara gab Gas. Mehr als