Mitte August, als Sepp und Clara verheiratet waren, zog die Familie Gollic zu Agnes. Zur Überraschung aller Beteiligten ließ Agnes sich von Yellas Kochkünsten verwöhnen und trug dafür das kleine Töchterchen Milena stolz wie eine richtige Großmutter in ihren Armen spazieren.
Und endlich, an einem Tag, an dem sich ein klarblauer Himmel über die Alpen spannte, schnürte Barbara unter Gritlis kritischen Blicken ihre Bergstiefel zu. Sie stiegen in ihr Auto, fuhren zur Ludwigshöh, tranken am Kiosk einen Saft und machten sich dann an den Aufstieg zum Felshorn.
Gritli sprach wenig, und Barbara glaubte, daß die Kleine viel lieber mit Clara auf den Gipfel geklettert wäre. Es war heiß, und weil es viel Mühe kostete, mit dem flinken Mädchen Schritt zu halten, war sie manchmal kurz davor aufzugeben und umzukehren. Aber dann, nach drei Stunden war es geschafft.
Barbara sank entkräftet zu Boden. Wie sollte sie hier jemals wieder runterkommen? Sie war ja nicht unsportlich. Als junges Mädchen hatte sie oft an Bergtouren teilgenommen, aber seitdem waren zehn Jahre vergangen. Ein Blick ins Tal und schon jetzt grauste ihr vor dem Abstieg.
»Das Wetter bleibt so wie ’s ist, Barbara«, stellte Gritli fest, während sie weit in die Ferne schaute. »Weißt warum? Heute abend werden die Gipfel rosig. Tante Theres hat gesagt, wenn sie rosig schimmern wie der Bauch einer kleinen Maus, dann ist keine Gefahr für die nächste Woche. Nur rosarot leuchten dürfen die Berge nicht. Das gibt Regen von Osten.«
»Vermißt du Tante Theres manchmal?« fragte Barbara bewegt.
»Nix da!« schüttelte Gritli den Kopf. »Ich hab ja jetzt dich. Und das mit dem Wetter wirst auch noch lernen.«
»Ja, du hast mich. Und Clara dazu.« Am liebsten hätte sie das Kind fest in die Arme gezogen, aber das wagte sie hier oben nicht.
»Clara? Pah! Die hat ja neuerdings Angst vor dem Berg. Fürs Felshorn hab’ ich wirklich nur dich, Barbara.«
»Du hast auch einen Papi, Gritli.«
»Der hat Ruppert«, entschied Gritli mit ernstem Gesicht. »So, und jetzt legst dich nieder und ruhst dich aus. Der Abstieg wird arg für dich, das weiß ich schon.«
Barbara lehnte sich gegen den Fels. Zu schlaff, um die Aussicht zu genießen, mußten ihr wohl die
Augen zugefallen sein. Plötzlich schreckte sie von Gritlis lautem Geschrei hoch. Die stand vor ihr, scharf am Abrund, hatte die Arme erhoben und schrie aus Leibeskräften.
»Holladrihoh! Hier, sind wir! Holladrihoh! Papi, hier! Ganz oben!«
Barbara kroch auf allen Vieren hin, um hinabzuschauen, sonst wäre ihr vor Schwindel übel geworden. Tatsächlich, dort unten, fünfzig Meter tiefer am Fels, arbeitete Thilo sich mit der Geschmeidigkeit eines geübten Bergsteigers bergan.
»Freust dich, Barbara?«
»Ich… fürchte mich«, stotterte die und wurde rot.
»Unsinn! Ich helf ihm doch rauf. Bleib ruhig sitzen, dann geschieht dir nichts.«
»Aber Gritli! Du kannst mich doch nicht allein lassen!«
»So ein Schmarrn! Mein Papi ist doch gleich bei dir. Stell dich nicht so an. Und weißt du, was ich dann im neuen Schuljahr dem Karli, dem Theo, der Patricia sag’?«
»Was denn?« fragte Barbara matt vor Angst.
»Daß ich nicht mehr ›Gritli über den Wolken‹ und auch nicht mehr ›Gritli über der Werkstatt‹ bin. Nur noch das fröhliche Gritli, weil mein Papi bei dir bleibt und niemals wieder fortgeht!« Und schon verschwand die schmale Gestalt nach unten.
»Gritli!« rief sie ihr nach. »Gritli, ich…«
Aber Gritli hörte nicht mehr auf sie, die Frau Lehrerin. Barbara lächelte. Für Thilos Töchterchen war sie nur noch eine Frau, die einen Gipfel erklommen hatte und nun ängstlich und allein auf Hilfe wartete.
Aber wartete sie nicht nur auf Thilo, von dem sie wußte, daß er sie so liebte wie sie ihn? Hatte er sich nicht längst wie Gritli einen Platz in ihrem Herzen und ihrem Leben erobert? Und mußte sie ihm nicht hier, auf diesem winzigen Plateau, ohne Schwindelgefühl und ohne falschen Stolz, dafür aber mit ausgebreiteten Armen entgegenkommen?
Minuten später schaffte sie es. Mit zitternden Knien erhob sie sich und streckte ihm lächelnd die Arme entgegen. Er zog sie an sich, atemlos und doch mit erstaunlicher Kraft.
»Clara hat mir gestanden, daß sie am Kruzifix für uns gebetet hat, wie eine richtige Bäuerin.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und sah sie verliebt an. »Nur ging ’s ihr wieder nicht schnell genug. Darum hat sie mich heute zu euch hochgeschickt.«
Sie strahlte ihn an. »Ach, Thilo! Clara ist ein wahrer Schatz!«
»Das bist du allemal, Barbara. Und ich hoffe, du wirst meine Frau.«
Sie hob ihr Gesicht, spürte seine Lippen und auch, daß sich ihre Angst vor der Höhe des Gipfels in Seligkeit auflöste, so wie eine bestimmte Art von Wolken im warmen Wind aus dem Süden, wie Gritli es wußte.
»Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt«, raunte er ihr ins Ohr. »Dabei hast du mich heruntergeputzt wie einen Schüler.«
»Ich liebe meine Schüler. Besonders die, die mir das Leben schwermachen. Merk dir das!« schmunzelte sie und schmiegte sich in seine Arme, um die herrliche Aussicht zu genießen. Ohne Gritlis Belehrungen über die Wetteraussichten für die nächsten Tage war das ein wahrhaft ungetrübtes Vergnügen.
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