DIE GRENZE. Robert Mccammon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Mccammon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353060
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      Dann drehte er sich doch um. Er musste wissen, was hinter ihm war. Gerade als er nach rechts ausweichen wollte, tauchte aus dem Nebel ein Reiter auf einem grau gescheckten Pferd auf, griff nach unten und packte den Jungen fest am Arm. Er wurde von seinen Füßen nach oben gezogen. Eine hart klingende, aber menschliche Stimme knurrte: »Hoch mit dir!«

      Dem Jungen gelang es, hinter den Mann auf das Pferd zu kommen. Er klammerte sich an seine Taille und bemerkte, dass der Mann an der linken Seite ein Schulterholster trug, in dem eine Waffe steckte, die wie eine Uzi-Maschinenpistole aussah. Das Pferd und seine beiden Reiter fegten über das Feld, während in der Ferne die Gorgonen-Monster in einer Lautstärke tobten wie ein Chor von Begräbnisglocken am letzten Tag der Welt.

      Kapitel 2

      Aber es war nicht der letzte Tag.

      Es war ein Donnerstag, genauer gesagt der 10. Mai. Manche mochten sich wünschen, es sei der letzte Tag, manche mochten darum gebetet und bittere Tränen geweint haben, aber andere hatten sich auch auf die Tage nach diesem vorbereitet. Und so fand sich der Junge auf einem Pferderücken wieder und näherte sich einer Festung.

      An der Straße, die zu dieser Hügelkuppe in Colorado am südlichen Rand der Stadt Fort Collins führte, stand ein verwittertes Schild, auf dem das stilisierte Emblem eines Panthers und angelaufene Buchstaben aus Messing zu sehen waren, die den Schriftzug »Panther Ridge Apartments« bildeten. Auf der Spitze des Hügels, mit einem Rundumblick über die umliegende Gegend, befanden sich die Wohnungen selbst. Es waren vier Gebäude aus sandfarbenen Ziegelsteinen mit grau lackierten Balkonen und Glasschiebetüren. Die Panther Ridge Apartments, erbaut 1990, waren einst eine begehrte Adresse für erfolgreiche Singles gewesen. Seit der Finanzkrise von 2007 waren für die Anlage harte Zeiten angebrochen, und die Eigentümerin eine Investmentgesellschaft, hatte sie an eine andere Firma abgestoßen. Es war der Beginn einer Abwärtsspirale gewesen, was die Instandhaltung betraf.

      Der Junge wusste nichts davon. Er sah nur vier trostlos aussehende Gebäude, die von einer fünfzehn Fuß hohen Mauer aus grob behauenen Steinen umgeben waren. Dicke Spiralen aus Stacheldraht krönten die Mauer. Hölzerne Wachtürme, die mit Teerpappe überdacht waren, standen hinter der Mauer im Osten und Westen, Norden und Süden. Die schweren Maschinengewehre, die auf drehbaren Lafetten auf jedem Turm standen, waren nicht zu übersehen.

      Als das Pferd und seine Reiter sich auf der Straße von Norden näherten, schwenkte jemand auf dem Turm eine grüne Signalflagge. Der Junge sah, wie sich ein großes, mit Metallplatten besetztes hölzernes Tor nach innen öffnete. Sobald der Durchgang breit genug war, galoppierte das Pferd hindurch. Sofort begannen die Männer und Frauen, die das schwere Tor aufgeschoben hatten, es wieder zu schließen. Zwei dicke Holzbalken, die in eiserne Klammern und Vertiefungen in den Wänden einrasteten, verschlossen das Tor. Aber in diesem Moment wurde der Junge schon von einem stämmigen Mann heruntergehoben, der an die Seite des Pferdes gelaufen war, um genau diese eine Aufgabe zu erledigen. Der stämmige Mann hatte einen langen grauen Bart, trug Lederhandschuhe und hielt den Jungen wie einen Müllsack vor sich, während er tiefer in den Apartmentkomplex rannte und schließlich eine Treppe hinunterlief. Eine Tür wurde geöffnet, der Junge geradezu hineingeworfen, und die Tür schloss sich wieder. Der Junge hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.

      Er war, wie er innerhalb weniger Sekunden feststellte, eingesperrt.

      Der Boden war mit weißem, zerkratztem Linoleum ausgelegt. Die Wände waren gelblich-grau gestrichen und zeigten ebenfalls tiefe Kratzer. Für den Jungen, der auf dem Boden saß und seine Umgebung betrachtete, sahen sie wie die Spuren von Krallen aus. An einigen Stellen waren Einschusslöcher zu sehen. Die Tür war mit Metallplatten verstärkt, so wie er es bei dem großen Tor gesehen hatte. Die Schiebetür zum Balkon war mit Blech besetzt und zusätzlich von Stacheldraht bedeckt. Ein Fenster war ein Stück weit offengelassen worden und ließ schwaches Licht herein. Es gab keine Möbel. Die Lampen waren entfernt worden, aber natürlich gab es keinen Strom, sodass die herunterhängenden Drähte lediglich daran erinnerten, was einst gewesen war. An den Wänden und auf dem Boden sah er etwas, was vielleicht die verblassten, braunen Überreste von Blutflecken waren.

      Der Junge sagte: »Okay«, nur um seine eigene Stimme wieder zu hören.

      Und es war mehr als das. Okay. Wenn er es über das Feld geschafft hatte und von diesem Parkplatz voller Gorgonen und Cypher heruntergekommen war, dann würde er überleben. Er wusste, dass er einen starken Überlebensinstinkt hatte, obwohl er sich weder erinnern konnte, wer er war, noch woher er kam. Also … okay. Und okay, weil er wenigstens bei Menschen war, und vielleicht würden sie ihn in einen Topf stecken, kochen und essen, aber … nun, vielleicht wäre das nicht so okay, also ließ der Junge den Gedanken fallen. Aber wenigstens war er bei Menschen, richtig? Und okay, weil er sich für diesen Moment – nur für diesen einen Moment – sicher fühlte in diesem kleinen Gefängnis, und weil er jetzt nicht mehr rennen musste, weil er müde und verletzt war und es okay war, einfach nur hier zu sitzen und zu warten, was als Nächstes geschehen würde.

      Was als Nächstes geschah, ließ nicht lange auf sich warten. Innerhalb weniger Minuten hörte der Junge, wie sich der Schlüssel erneut im Schloss drehte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Angespannt rutschte er über den Boden, bis er mit dem Rücken an der Wand saß. Die Tür öffnete sich und drei Männer betraten den schwach beleuchteten Raum. Einer der Männer trug eine altmodische schwarze Arzttasche und eine brennende Öllampe, die er dem Jungen entgegenhielt. Die beiden anderen Männer waren mit Maschinenpistolen bewaffnet, die sie ebenfalls auf den Jungen richteten, und zwar mit den Läufen voran.

      Die Tür ging zu, der Schlüssel drehte sich wieder.

      »Steh auf«, befahl einer der Männer mit den Maschinenpistolen. »Zieh deine Klamotten aus.«

      »Was?«, fragte der Junge, noch benommen von seiner Flucht.

      »Aufstehen«, ertönte die raue Stimme. »Und die Klamotten ausziehen

      Der Junge stand auf. Der Mann, der ihn ansprach, war derselbe, der ihn auf das Pferd gehievt hatte. Er war vielleicht vierzig Jahre alt, von mittlerer Statur, aber für seine Größe offensichtlich sehr kräftig. Sein Gesicht war von harten Linien geprägt, seine Nase erinnerte an den Schnabel eines Falken und seine dunkelbraunen Augen waren tiefsitzend und misstrauisch. Er sah aus, als hätte er nie gewusst, wie sich ein Lächeln anfühlte, als könnte ein Lächeln sein Gesicht zerbrechen. Der Mann trug verblichene Jeans, braune Arbeitsstiefel und ein graues Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Auf seinem Kopf saß eine schmutzige, dunkelblaue Baseballmütze. Er hatte einen braunen Bart, der an den Rändern grau wurde. Um seine linke Schulter hing dicht an seiner Seite das Holster für seine sehr tödliche Waffe. An seinem linken Handgelenk war eine kaputte Uhr ohne Glas zu sehen, deren Zeiger sich nicht bewegten.

      »Nun mach schon, Junge«, drängte der Mann mit der Arzttasche. Er war älter, wahrscheinlich Mitte sechzig, hatte weiße Haare und war glattrasiert, schlank und ordentlicher gekleidet als die anderen. Er trug ein blaues Hemd und verblichene Khakihosen. Er hielt sich offenbar so gut er konnte an allem fest, was sein Leben einst ausgemacht hatte. Sein Gesicht war vielleicht einmal freundlich und offen gewesen, aber jetzt sah es verhärtet und angespannt aus. Der Junge bemerkte ein Holster an der Hüfte, in dem ein Revolver steckte. Dieser Mann trug eine Armbanduhr, die in gutem Zustand zu sein schien.

      »Werden Sie mich töten?«, fragte der Junge den älteren Mann.

      »Wenn wir müssen«, antwortete der Mann mit dem finsteren Gesicht. »Zieh dich aus. Sofort!«

      Der dritte Mann, dünn und fahl und mit schwarzem Bart, stand neben der Tür. Der Junge schätzte, dass er dort stehen blieb, um für den Fall des Falles ein klares Schussfeld zu haben. Der Junge begann sich auszuziehen, ganz langsam, denn seine Knochen schmerzten und er fühlte sich so müde, als könnte er hundert Jahre schlafen. Als er sich ausgezogen hatte und seine Kleidung um ihn herum auf dem Boden lag, blieb er regungslos stehen, während die drei Männer ihn im Schein der Öllampe musterten.

      »Woher hast du die ganzen blauen Flecken?«,