Wir sind dann nach Hause gefahren und sind noch rechtzeitig zum Essen gekommen. Und mein Bub hat die Geschenke des Osterhasen gesucht hinter allen Möbeln, denn im Freien war es zu kalt, und überdies war auch wieder Regen gefallen. Die alte Uhr tickte – sie stammt von dir, Großmutter –, und nun bist du wieder allein draußen bei den vielen Gebeinen deiner Eltern und Geschwister, die alle aus ihren schweren bleiernen Särgen genommen und, weiß und schmal, gesammelt worden waren in ein ganz kleines Särglein, das, durch eine dicke Erdschichte getrennt, neben dir steht, neben deinem schweren bleiernen Sarg, der auch einmal wird aufgebrochen werden, verrostet und zerfressen, wie er dann ist, deine kleinen weißen Gebeine herzugeben, daß man sie sammle zu denen andrer Teuren, die du gerufen haben wirst, Tod, schrecklicher, unentrinnbarer ...
Es sind erst ein paar Tage her, seit ich in der Heimat war, und es liegen Jahre dazwischen. Wenn ich wiederkehre und dich wieder besuche, Großmutter, dann steht der Sommer in Farben, und dein Grab prangt in den üppigsten Blumen, auf die der Schatten des Todes fällt, der unhörbar hinter mir hält. Dann ist der Himmel tiefblau, brennend blau, und die Rebhühner ducken sich in das hohe gelbe Korn, und die Windmühlen auf den Hügeln drehen ihre Flügel vor lauter Sommerübermut ... Du hast Zeit, Großmutter. Und ich habe Zeit zu diesem Besuch. Aber noch einmal, Tod, lautloser Begleiter, frage ich dich: »Wo ist sie?«
Tanzstunde
Heute ist mir plötzlich die Abendstunde seltsam lebendig gewesen, in der du mich, Großmutter, vor vielen, vielen Jahren zweimal in der Woche zur Tanzstunde begleitet hast. Ich war ein siebenjähriger, kleiner Kerl, sicherlich der Kleinste in der Gesellschaft. Warum du mich eigentlich dahin begleitet hast und warum ich überhaupt gerade in diese Tanzstunde, die ein alter Ballettmeister jeden Winter ankündigte, zu gehen hatte, ist mir heute nicht mehr recht erklärlich. Aber das ist ja ganz nebensächlich, wie überhaupt alles Erklärliche. Nur das Unerklärliche ist von Belang, selbst das Unerklärliche einer Tanzstunde ... Ich weiß, es war ein altes Haus, ein alter Hof war zu überschreiten, und der Saal, in dem wir tanzten, war auch sehr alt und feierlich durch seine ungewöhnliche Länge und die Kerzen an den Wänden. Da stand der alte Ballettmeister, der ein furchtbar unangenehmes Gesicht besaß, ein säuerliches, würdebewußtes Gesicht mit langen, langen Backenbartflechten, da stand er in seinem abgetragenen Frack und hielt das Bein, das gelenkige Bein in Positur, immer in Positur. Er hatte einen schlappen Bauch, über dem eine dicke Uhrkette baumelte, schneuzte sich in ein rotes Taschentuch und verfügte, glaub ich, über eine hohe, nicht sehr angenehme Stimme. Ich mochte ihn gar nicht leiden, ja ich fürchtete mich vor ihm, haßte ihn sogar. Denn ich war kein besonders guter Tänzer. Aber da war ein wunderschönes Fräulein, mit dem ich am allerliebsten tanzte, das heißt, ich tanzte nur mit diesem Fräulein gern, alle andern Fräulein beschäftigten midi gar nicht, und ich kann mich auch nicht erinnern, was für andere Fräulein mit mir noch außer diesem einen bei dem alten Ballettmeister tanzen lernten. Ich habe sie alle ganz und gar vergessen, nur die eine nicht. Diesem schönen Fräulein widmete ich mich bis zu einem Grade, daß ich von einer gewissen Zeit an begann, nur um ihretwillen die Tanzstunde zu besuchen, ja, daß ich sogar am Tanzen selbst Gefallen fand. Einmal aber bin ich mit ihr gestürzt, kam halb auf sie zu liegen, und dieses Geschehnis befestigte unsere Verbindung ... Großmutter, du saßest an der Schmalseite des langen Gemaches auf dem zerschlissenen Sofa der Ehrengäste, neben ihrer Mutter. Das ist alles, was ich weiß. Wie eine Silhouette ist es in eirundem Rahmen an einer kahlen grauen Wand. Und noch ein blasses Daguerreotyp taucht auf: die feierliche Nikolobescherung, zu der in großen Wäschekörben die Geschenke der Tänzer an die Damen herangeschleppt wurden – der Tanzmeister hielt etwas auf diese altherkömmliche Sitte –, eine Gelegenheit, bei der sich fand, daß nicht minder wie ich an sie jenes schöne Fräulein – oder war es ihre Mama? – an mich gedacht hatte ... Nun, etliche Jahre später hab ich wieder eine Tanzstunde besucht. Aber damals war bei mir die Epoche der ungemeinen Verachtung des weiblichen Geschlechtes im allgemeinen und der Tanzstundengenossinnen im besonderen in Blüte. Ob die Sache sehr fest bei mir saß, wage ich anzuzweifeln. Aber ich war wieder so ziemlich der jüngste in einer Schar robuster Jungen, die sich für das einschränkende Zierlichtun des Tanzwerks jeweils durch gröbliche Raufereien entschädigten, und ich mußte wohl oder übel mit den »Männern« halten, wenn mir auch das Raufen durchaus nicht zusagen mochte, ja ich eigentlich mitten inne stand und schon damals einen gespaltenen Menschen vorstellte: die Jungen nur »Männer«, kräftig, rauh, roh, bewaffnet mit schneidenden Anspielungen und derben Witzen, überlegen, hochmütig, insgesamt aber musikalisch, das heißt jeder in seiner Art irgendein Instrument behandelnd; ich weder bei den Mädchen besonders gelitten noch bei den Buben angesehen, weder jenen zugetan noch bei diesen gut aufgehoben, zwischen beiden Lagern pendelnd, verlegen-unschlüssig, stets aufs neue befangen, jedenfalls durchaus nicht befriedigt von diesen Tanzübungen, zu denen man mich, wie später zum Französischen, geradezu schleppen mußte ... Großmutter, warum ich dir solche Nichtigkeiten erzähle? Weil mir nicht diese zweite, wohl aber jene erste Tanzstunde heute wie ein Stück aus deinem eigenen Leben erscheint, etwas Altmodisches, zwischen gestreiften Tapeten und unter vergoldeten Spiegeln spielend und erfüllt von einer leisen Musik, die aus einem dünnen Klavier kommt in einer scheu gemiedenen Ecke. Es ist Poesie in dieser verstaubten Erinnerung, und ich bin so voreingenommen für Erinnerungen, die zu dir gehören, daß ich aus den unscheinbarsten Blumen kleine schmale Kränzlein winde, sie dir aufs Grab zu legen, in dem mit dir, liebste Großmutter, meine wunderschöne Kindheit schläft ...
Großmutters Bibliothek
Was waren das für geheimnisvolle Stunden, wenn ich in deiner Bibliothek wühlen durfte! Bibliothek: das klingt sehr großartig, und es war doch nur ein schmales Wandgehänge, worin auf zwei Borden die wenigen schlicht gebundenen Bücher standen,