Dort ist das berühmte Bäumchen, an das die »Stracka« alljährlich die ersten Kirschen anbindet. Das sieht wunderhübsch aus, die roten, vollen Kugelfrüchte gegen das dunkle Grün. Die Stracka sagt zwar, das tue der liebe Gott. Aber man weiß schon, daß der liebe Gott doch nicht so ohne weiteres über die Stiege in den Garten hereinkommt. Und dann hat ja die Stracka immer noch ein paar Sträußchen Kirschen in der blauen Schürze, wenn sie die Kinder mit staunenden Bewegungen ihres dürren Oberkörpers, auf dem der faltige Hals wie der eines Huhnes aufsitzt, herbeiruft. Die Stracka – sollte man es glauben! – ist auch einmal jung gewesen und schön, sogar sehr schön. Stolz rühmt sie sich französischen Blutes: in den Franzosenkriegen hat ihre Mutter einem Grenadier gefallen ... Und nicht nur diese romantische Geschichte wußte die Stracka, sie war überhaupt voll von Geschichten: die richtige Märchenamme. Deine Amme, Großmutter – ist's denn menschenmöglich? –, deine Amme wandelte unter uns Kindern und erzählte ihnen die Märchen und Sagen der deutschen Vorwelt, diese unerschöpflichen Märchen und Sagen, in denen alles Gold der Treue und alle Edelsteine der Tapferkeit und der Schönheit gesammelt sind zum ewigen Gedächtnis. Da war Genoveva, die hehre Magd, im langen blonden Haar, mit der Hirschkuh, da war Roland, der ins Horn stieß im Tale von Ronceval, bis ihm am Halse die Adern sprangen, da war der Däumling, der nachts vom Baume herab das schimmernde Licht erspäht ... Weniger märchenhaft war der Stracka sonderliches Gebaren im Hause ihrer Wohltäter. Die Großtante, von deren Gnade sie das Ausgedinge hatte, erfuhr von ihren vertrockneten Lippen nur Böses. Groll gegen die gute milde Frau erfüllte ihr Greisenherz bis an den Rand. Die andern aber, die ihr bei Gelegenheit einen Trunk verabreichen ließen oder ein kleines Geldgeschenk, die pries sie und lobte in falsch tönendem Überschwang ihre Güte. Den Kindern ist sie zeitlebens eine warme Freundin geblieben. Sie hat alle Geburts- und Namensfeste mit ihren Sprüchen begleitet; die Stracka gehörte zu solch einem Tage. Es war unumgänglich, sie in der Küche zu begrüßen, wo sie, steif aufgerichtet, das saubere Kopftuch über den schneeweißen, sorglich gescheitelten Strähnen, vor ihrem Glase Wein saß. Und ohne Gabe kam sie niemals: ein paar Blumen, die erste Obstgattung des Monats, eine Kleinigkeit vom Jahrmarkt.
Noch einen Freund, der längst dahingegangen ist, muß ich dir beschwören, Großmutter, den du eben nicht leiden mochtest, weil er so unerhört schmutzig war, den alten Hausmeister, »Pantato« in drolliger Verballhornung genannt, ein sanftmütiges, verschrumpeltes Ungetüm, ein fast trottelhafter Mensch, aber die demütige Güte selbst. Die Stracka liebte ihn durchaus nicht, der im Hof ein eignes Häuschen besaß, während sie draußen in der Vorstadt nächtigte. Er war wie ein zahnloser greiser Hund, der immer mit müdem Schwanze wedelt und die Schnauze grinsend verzieht zu freundlicher Bewillkommnung. Er schlürfte in seinen Schlapfen, die klebrige Kappe auf dem ungewaschenen grauen Kopfe, in geschäftiger Eile und dabei so vergeßlich wie ein Kaninchen durch den Hof, den Hausflur. Zu jedem Gange war er erbötig. Manchmal aber saß er ganz in sich eingesunken, die Kappe zwischen den mageren Knien, den Kopf gesenkt, auf dem Küchenhockerl und schien der Welt entrückt. Ob in diesem alten armen Schädel je zusammenhängende Gedanken kreisten? Und ob der »Pantato« andres als die Erinnerungen der Hundetreue hegte? ... Es gibt keine solchen Diener mehr ...
Von der verstoßenen Schönheit
Großmutter, das war eine schöne, schöne Zeit damals, als du jung warst! Damals gab es noch Männer und Frauen mit stillen, innigen Augen und gelassenen Schritten, Männer und Frauen mit tiefen, warmen Herzen und sanften, blauen Träumen. Damals war ja die Schönheit noch unter den Menschen, mitten unter ihnen, auf dem Markte, in ihren niedrigen, behaglichen Stuben, in ihren Gärten hinter den lebenden Hecken.
Auf seinen festgegründeten Schlössern saß der landtreue alte Adel und noch nicht die Holz- und Zuckerbarone; auf seinem eigenen Boden stand der Bürger und schaffte für Kinder und Enkel in regsamem Fleiße; der Handwerker, vom Künstler beraten, selbst ein bedächtiger Künstler, gab Stück um Stück an sorgfältig und erfahren Wählende. Heute ragt allenthalben qualmend Schlot an Schlot; um die Knie der tausend Kolosse wimmelt's von gehetztem, bleichen Elend; Städte und Länder aber überfluten die wohlfeilen Massenerzeugnisse einer immer verruchter gesteigerten Technik, sie drängen sich, falsch und gleißend, neben das Edle, Gewachsene, stoßen es weg, treten das Gediegen-Schlichte unter ihre tausend trampelnden Füße. Die Menschen, hastig, zerfahren, atemlos, haben keine Augen mehr, sondern dumpfe, angelaufene, erblindete Löcher im Kopf. Oh, über ihre Unrast und Würdelosigkeit! Wie stumpf sind ihre Sinne geworden! Welch ein Höllenlärm der Leere ist um uns!
Wie anders, Großmutter, zu deiner Zeit! Damals hatten die Menschen noch Rhythmus, anmutige Melodie in ihren Beziehungen zur Mit- und Umwelt. Wie beruhigt konnten die Sinne sich entfalten.
Großmutter, wie schön war es, da du jung warst! Dein Vater verfertigte aus Silber zierliche Körbe und schwere, getriebene Leuchter; unter seinen Gesellen wog er den edeln Stoff, verteilte die Arbeit, schob den Gewinst in die Lade. Und war sein Tagewerk vollbracht, dann wusch er Gesicht und Hände, kleidete sich in den feinen blauen Tuchrock und die gelben gestrupften Nankinghosen, tat den blanken Kastor auf das glattgescheitelte Haupt und fuhr mit seinen Kindern in der eignen Kalesche hinaus durch die blühende Lindenallee zu seinem Garten. Und Garten lag an Garten gereiht, und in ihnen, abseits von der Straße, standen weiße Häuser mit breiter Stirn, schön gegliedert in drei Längenteile, das Mittelstück vorgerückt. Tief hinab reichten die gegiebelten Dächer. Und der Vorbau ruhte auf vier schlanken Säulen, um die sich Wein oder Efeu rankte. Weiße