Je schlimmer aber die Nächte waren, um so pünktlicher kam Juliette zur Arbeit. Sie wollte gar nicht »menschlich« sein, wie Gabriel ihr geraten hatte, sie wollte nur ihre Alleinheit, ihre Verlorenheit überwinden. Mit großer Hingabe diente sie. Ihre Geruchsnerven besiegend, kniete Juliette neben die Kranken hin, zu diesen halbbewußtlosen Alten auf ihren groben Decken, sie entblößte ihre fiebernden Körper, befreite sie vom Schmutz, wusch ihnen die entstellten Gesichter mit den Toilettewässern, die sie noch besaß. Sie opferte in diesen Tagen viel. Einen Teil ihrer eigenen Wäsche gab sie hin, aus ihren Bettlaken ließ sie Windeln für Säuglinge und Wickel für die Kranken zuschneiden. Für sich selbst behielt sie nur das Notwendigste. Doch wie sich Juliette auch bemühte, in den stumpfen Fischaugen der Fiebernden und in den abweisenden Augen der Gesunden war keine Dankbarkeit, ja nicht einmal Anerkennung für sie, die Fremde, zu lesen. Selbst Gabriel fand kein Wort des Lobes für sie. Vor zehn Tagen noch so ritterlich um seine Frau bemüht, war sie auch für ihn nun zum überflüssigen Ballast geworden. Und in dieser Verlassenheit mußte sie sterben, einsamer und ärmer als der Ärmste hier oben auf dem Musa Dagh.
In solchen Stunden des überschwellenden Selbsterbarmens verhehlte Juliette geflissentlich vor ihrem eigenen Herzen, daß sie durchaus nicht so ganz verlassen war. Gonzague Maris wich nicht von ihrer Seite, seitdem er die unselige Verlorenheit in ihren Augen bemerkt hatte. Er verdoppelte seinen aufmerksamen Dienst und sprang ihr helfend bei, wo und wie er nur konnte. Juliette sah mehr denn je in ihm den Sohn einer französischen Mutter, den Kulturmenschen ihresgleichen, einen entfernt Verwandten. Seit den letzten Tagen aber war die gute Vertraulichkeit zwischen ihnen durch irgend etwas gefährdet, nicht nur von seiner Seite, sondern auch von ihrer. Die Grenze hatte er nach wie vor nicht überschritten. Doch ließ er sie zum erstenmal ein Begehren spüren, ohne die Ehrerbietung auch nur im leisesten zu verletzen. Dieses An-der-Grenze-Sein, diese Nähe ohne Berührung brachte Juliette neue Verwirrungen. Sie mußte viel an Gonzague denken. Dazu kam, daß er ihr trotz der französischen Mutter noch immer recht unheimlich war. Menschen, die sich stets in der Hand haben, Menschen, die unendlich lang warten können, sind unheimlich. Auch gehörte Gonzague zu denjenigen, welche in der Erregung nicht rot, sondern bleich werden.
Die Veränderung aber hatte damit begonnen, daß Gonzague Maris von einem Tag zum anderen jene verschwiegene Reserve verlor, die Juliette nie hatte begreifen können, und ihr von seinem Leben zu erzählen begann.
Juliette blieb jeden Morgen drei oder vier Stunden im Lazarettschuppen, so lange zumeist, bis die Kranken ihr Mittagessen bekommen hatten. Um diese Zeit wurde sie gewöhnlich von Gonzague Maris abgeholt. War sie noch nicht fertig, so wartete er. Seine aufmerksamen Augen lagen unablässig auf ihr. Sie fühlte sich von diesen Augen umhegt. Und es war auch so. Denn wenn sie sich, nicht ohne eine leichte Absicht, allzulange verwirtschaftete, trat er zart an sie heran und flüsterte:
»Jetzt ist es genug! Lassen Sie die Dinge stehn, Juliette! Sie sind zu gut für solche Arbeit. Sie wird Ihnen schaden.«
Mit sanfter Entschiedenheit zwang er sie dann, den Krankenort zu verlassen. Sie ging gerne mit ihm. Da Gonzague keiner Pflicht unterworfen war und eine solche vom Führerrat auch nicht erbat, hatte er seine Zeit dazu benützt, auf der Meerseite des Damlajik einige wunderschöne Naturwege, Aussichtspunkte und Ruheplätze zu entdecken. Sie seien ebenso schön, behauptete er, wie dergleichen berühmte Örtlichkeiten an der Riviera. Juliette und Gonzague saßen jetzt täglich zu den verschiedensten Stunden auf den luftigen oder geschützten Sitzen, auf den freien oder schattigen Felsvorsprüngen dieser Riviera, die sich, durch ein breites Gürtelband der Myrten-, Rhododendron- und Arbutusbüsche von der Hochfläche getrennt, in einer langen auf- und absteigenden Linie am Rande der Riesenmauern hinzog, mit denen der Küstenberg ins Meer stürzt. Beide fühlen sich unendlich allein. Denn wer wollte sie, die Fremden, vermissen?
An diesem Tage, dem vierzehnten des August und dem fünfzehnten des Musa Dagh, schien Gonzague Maris ein ganz andrer zu sein als sonst. Juliette hatte ihn noch nie so traurig gesehn, so knabenhaft melancholisch, so ziellos beschattet. Seine Augen – in denen keine Weite lag, selbst wenn sie ins Weite sahen – ließ er, wie Juliette annahm, ins Endlose schweifen. In Wirklichkeit aber richtete er seinen Blick auf einen ganz bestimmten Punkt, der freilich durch eine vorgelagerte Bergnase verdeckt war. Seine Gedanken suchten die Mündungsebene des Orontes mit den großen, in der Sonne blitzenden Gebäuden der Spiritusbrennerei. Juliettens Frage, die ihrem, nicht seinem Zustand entsprach, war daher sehr verfehlt:
»Haben Sie Heimweh, Gonzague?«
Er lachte kurz auf, und sie verspürte beschämt den peinlichen Unsinn ihrer Worte. Sie gedachte seines Lebenslaufes, den ihr Gonzague in einigen Bruchstücken mit leicht wegwerfender Ironie erzählt hatte, als sei er daran nur halb und nicht einmal mit seinem besten Wesensfragment beteiligt. Der Vater, ein Bankier in Athen, hatte eine französische Gouvernante zu seiner