Der Russe schien nach seiner Niederlage durch Bagradian eine innere Wandlung erlebt zu haben. Er spielte nicht mehr den ungebundenen Gast, der sich nach Willkür dem Volksleben anbequemte, sondern unterwarf sich von jenem Tag an widerspruchslos der Kriegsordnung. Und mehr als das, er betätigte sich in seinem Abschnitt als erfindungsreicher Festungsingenieur. Die aus großen Steinblöcken lose errichteten Verteidigungsmauern erhöhte und verstärkte er in mehrtägiger rastloser Arbeit und schuf eine primitive, aber sinnvolle Maschine, um die Abwehrkraft vernichtend zu steigern. Hinter jeder dieser drei in ziemlich weiten Abständen der Steinhalde zugewandten Mauern hatte er aus hohen Eichenstämmen rechteckige Galgen errichten lassen. An dem Querpfosten dieser Galgen hing, an starken Hanfseilen waagrecht befestigt, ein dicker Widderbalken, der an dem einen Ende eine Art mächtiger Tischplatte oder eisenbeschlagenen Schildes trug. Man konnte die Seile der Aufhängevorrichtung verkürzen oder verlängern und dadurch den Stoßpunkt des Widders auf die Mauer verschieben. Wenn die überaus schwere Schildplatte von einem weitgespannten Pendelpunkt auf die Mauerblöcke sauste, bekam sie eine Stoßgewalt, die sich mit menschlichen Kräften nie hätte erreichen lassen.
In dem Augenblick, da das Haubitzfeuer begann und die Beobachter meldeten, daß die türkischen Schützenketten die Bergstufe oberhalb der römischen Tempelruinen zu erklettern begannen, verlor der von Gabriel Bagradian eingesetzte Abschnittskommandant völlig den Kopf. Er starrte aus einer Lücke der Felsbastion gebannt auf die Vorhalde hinab, ohne sich zu einem Befehl aufraffen zu können. Hrand Oskanian, der gewaltige Knirps, wurde weiß wie Papier. Seine Hände zitterten so stark, daß er den Verschluß seines Karagewehres nicht zu spannen vermochte, um die erste Patrone einspringen zu lassen. Sein Magen hob sich, und Oskanian verlor das Gleichgewichtsgefühl. Vor einer halben Stunde noch ein drohender Mars, hatte der schwarze Lehrer jetzt nicht mehr Kraft genug, sich aus dem Staube zu machen. Die Stimme versagte ihm. Er folgte Sarkis Kilikian bei jedem Schritte wie ein Hündchen. Der Aufseher suchte bei dem Beaufsichtigten zähneklappernd Schutz. In den stumpfen Augen des Russen war achatne Ruhe wie immer. Sofort versammelten sich die Deserteure und auch die übrigen Zehnerschaften um ihn als dem natürlichen Oberhaupt. Keiner achtete mehr des Mannes aus Kheder Beg. Auch Kilikian sprach beinahe kein Wort. Er schritt inmitten des Haufens die Verteidigungswerke ab und bezeichnete mit der Hand jene Leute, die er zur Besatzung des Felsturms, der Abwehrmauern und Nebenschanzen bestimmte. Hinter den Widdergalgen waren auf hohen Steinhaufen leiterartige Gerüste errichtet. Je zwei Männer erstiegen sie jetzt, um auf Kilikians Befehlszeichen den Widder auf die Mauer sausen zu lassen. Der Russe befolgte die gleiche Taktik wie Bagradian am vierten August. Er wartete auf die richtige Sekunde. Nur schien seine gleichgültige, tote Geduld unendlich größer zu sein als die Gabriels. Als die Vorhuten der Türken bereits über dem Rand der Steinhalde auftauchten, zündete er sich mit seinem vorsintflutlichen Feuerzeug eine Zigarette an. Oskanian neben ihm zuckte und keuchte: »Jetzt! Jetzt, Kilikian, los!« Während er den Wergstreifen vergeblich in Brand zu setzen suchte, hielt Kilikian den Lehrer mit der freien Hand fest, damit er nicht aufspringe und ein verfrühtes Zeichen gebe. Durch den gefahrlosen Aufstieg und den tiefen Frieden des Berges in Sicherheit gewiegt, ließen sich die Türken gehen, rückten zusammen, redeten und bildeten dichte Klumpen. Erst als sie etwa die Mitte der Steinhalde erreicht hatten, stieß Kilikian einen langen Pfiff aus. Die Sturmwidder mit den mächtigen Schildplatten donnerten gegen die lockeren Mauern. Die leichteren Steine der oberen Schichten spritzten aufstaubend und fauchend wie Geschosse davon, während sich die großen Kalkblöcke des Unterbaus vornüberneigten und mit großen wilden Sprüngen unter die Türken krachten. Schon die erste Wirkung war entsetzlich. Nun aber griff der Armenierberg höchstselbst in den Kampf ein, um die Vernichtung des Feindes so grausam zu vollenden, daß diese Naturkatastrophe an der syrischen Küste auch in künftigen Menschenaltern nicht vergessen werden wird. Die Abwehrmauern waren zwischen den Zinnenkranz des Felsturms eingebaut. Die Gewalt der Widder erschütterte auch die natürliche Kalkkrone in ihren Grundfesten und riß große Splitter der Zacken mit zu Tal. Diesem unbeschreiblichen Steinschlag konnte die Vorhalde, die aus einem dicken und losen Steingeschiebe bestand, nicht widerstehen. Mit dem betäubenden Zischen und Prasseln einer noch niemals erlebten Sturmbrandung geriet sie ins Rutschen und riß wie eine ungeheure Flut aus Kalk und Kreide alles, was von den Türken noch lebte, mit sich hinab. Es war mehr als eine grausige Felslawine. Der Damlajik selbst schien sich vom Anker gerissen zu haben und in Fahrt zu kommen. Der Hügel ging über die Ruinen der Oberstadt von Seleucia nieder, warf ganze Säulen um und zertrommelte stille efeuumwachsene Mauern. Zehn Minuten lang sah es aus, als habe der Berg die größte Lust, bis nach Suedja und an die Orontesmündung vorzurücken. Die Westgruppe des türkischen Korps wurde oberhalb des Dorfes Habaste vom Steinschlag gestreift. Die halbe Mannschaft konnte sich durch ein gnädiges Schicksal retten. Die andre Hälfte wurde getötet oder verwundet, das Dorf selbst zum Teil zerstört. Nach einer Viertelstunde trat hohle Totenstille ein. Der Bergbruch lag wieder tückisch-friedlich in der Sonnenglut. Vom Nordsattel krachten dumpf die Granateinschläge der Haubitzen herüber. Als sich kein Steinchen mehr bewegte, pfiff Kilikian zum zweitenmal. Die erstarrten Deserteure und die anderen Kämpfer kamen in Bewegung. Unter Führung des Russen spazierte die Besatzung der Südbastion gemächlich die Bergstufe hinab, machte allen türkischen Verwundeten mit großer Ruhe den Garaus und raubte die Toten buchstäblich bis auf die Haut aus. Dieses Geschäft wurde mit gelassenster Gründlichkeit besorgt, ungeachtet des schweren Kampfes, den die Brüder im Norden zu bestehen hatten. Sarkis Kilikian vertauschte seine Lumpen mit der funkelnagelneuen Montur eines türkischen Infanteristen. Trotz des frischen Blutes auf dem Rock des Toten drehte und wendete sich der Russe hin und her, als fühle er sich neugeboren. Hrand Oskanian aber hatte den höchsten Punkt des Felsturmes erstiegen und schoß wie ein Toller in die Luft, um seinen Anteil an dem Siege zu bekräftigen. Während des imposanten Geknatters, das er verübte, wunderte er sich nicht wenig, was für ein unbeträchtlich Ding die Tapferkeit für einen tapferen Mann ist.
Weder Gabriel Bagradian noch auch der Bimbaschi auf der Gegenseite wußten etwas von dem entsetzlichen Schicksal der Südgruppe. Im Kampfeslärm hatten beide den langen Donner der Lawine nur als ein fernes Rauschen gehört. Hier auf dem Nordsattel gestaltete sich die Schlacht sehr hart und unglücklich für die Armeniersöhne. Ob nun die Haubitzen vom Schicksal hoch begünstigt wurden oder durch eigenes Verdienst so glänzend arbeiteten, Tatsache war's, daß nach einer Stunde langsamen Sperrfeuers vier Volltreffer einen Teil des großen Riegelgrabens zerstört hatten und daß drei verstümmelte Leichen und einige Schwerverletzte auf der Erde lagen. Gabriel Bagradian war immer nur mit Not den heulenden Sprengstücken entgangen. Seine Haut war starr wie eingeregnetes Leder. Er spürte genau, daß er heute keinen souveränen Tag hatte. Die Einfälle und Entschlüsse sprangen nicht leicht wie sonst aus seinem Geist. Er hätte – dieser Vorwurf brannte – die Verluste vermeiden können. Zu spät gab er Tschausch Nurhan den Rückzugsbefehl. Doch war er klug genug, diesen auf der Felsseite durchführen zu lassen. Den Türken war es gelungen, in einem hohen Baum einen Beobachtersitz aufzuschlagen, von dem aus sie ein Stück des Grabens übersahen und die Feuerwirkung der Geschütze korrigieren konnten. Die Steinbarrikaden zur Rechten hingegen waren ihrem Blick entzogen. Im Bewußtsein des Unglücks vom vierten August fürchteten sie die erbarmungslosen Steilwände des Musa Dagh und wagten kein Umfassungsmanöver mehr. Die Verteidiger verließen einzelweise den Graben und drückten sich tiefgeduckt an den Blöcken und Vorsprüngen des Labyrinths vorbei, bis sie die Reservestellung erreichten, die ihrerseits auch wieder über einem Bodeneinschnitt lag. Der zweite Graben war heute nicht besetzt, da es Gabriel nicht gewagt hatte, auch nur eine einzige Zehnerschaft von den Verteidigungspunkten des Bergrandes abzuziehen. Er war fest überzeugt davon, daß die Türken auch noch an einer dritten Stelle einen Überfall versuchen