Sato war übrigens bereits lange vor Abend aufgebrochen. Sie gedachte, Nunik, Wartuk, Manuschak und ihre übrigen Freunde zu alarmieren. Die Gräberleute waren merkwürdigerweise sakrosankt. Niemand vergriff sich an ihnen. Die Saptiehs und der Pöbel ließen die Gesellschaft links liegen, die Verschickungsbefehle schienen für sie nicht zu gelten. Man billigte ihnen Unverletzbarkeit nicht nur deshalb zu, da bei ihnen nichts zu holen war, sondern weil sie vom und mit dem Tode lebten. Sato aber hatte diese Garde nicht etwa zusammengetrommelt, weil sie um Stephans Leben besorgt war. Gefühle wie Anhänglichkeit, Liebe und Sorge waren ihr gänzlich unbekannt. Selbst ihre Leidenschaft für Iskuhi war nur die Wunschgier, von einem Wesen, das sie entzückte, anerkannt zu werden und von ihm Besitz zu ergreifen. Sato kannte die Haupteigenschaft Nuniks. Wenn sie der gewaltigen Neugierde ihrer großen Freundin gehörige Nahrung zuführte, legte sie ein Kapital von Wohlwollen bei ihr an. Eine Mißachtete und selbst beim Abschaum nur Geduldete ist darauf angewiesen, eine flinke Agentin der menschlichen Begierden zu sein. Auch war es Sato bekannt, daß die alte Nunik einen besonderen Wissensdrang für alles hegte, was mit der Familie Bagradian zusammenhing.
Als knapp vor Mitternacht Stephan und Hagop durch das offene westliche Gartentor den mit Sand bestreuten Hof und Freiplatz des Hauses betraten, da saßen die Klageweiber im hauchschwachen Viertelmond schon rundum unter den Bäumen und machten verzweifelte Zeichen. Die Krücke Hagops nämlich tappte und knirschte sehr laut im Sand. Stephan gab dem Krüppel einen leichten Stoß, damit er zu den Totenvögeln hüpfe.
Es ist kaum begreiflich, daß solch ein empfindsames Kind wie der Bagradiansohn in dieser Minute von keiner Angst erfaßt wurde. Mochte er sich auch der Gefahr nicht voll bewußt sein, so hätte ihm doch die Nacht, seine Verlorenheit unter wildfremden Spukgestalten und der Anblick des Hauses, in dem die Mohadschirfamilie schlief, einen gewaltigen Schreck einjagen müssen. Dies aber war ja der krankhafte, der sinnverwirrte Zustand, den weder Gabriel noch Juliette an ihrem Knaben bemerkt hatten. Dem Anschein nach verwegen ohne Grenzen, konnte Stephan, als Opfer einer Sinneslähmung, nicht mehr genau zwischen dem Wachbild und dem Traumbild seiner Welt unterscheiden. Er trat langsam, fast schlendernd ins offene Haustor, als kehrte er von einem Spaziergang zurück. Die lockende Einbildung, es wäre nichts geschehen und alles beim alten geblieben, überfiel ihn mit solcher Macht, daß er in der Halle stehenblieb, ruhevoll in sich versunken. Dann erst knipste er die Taschenlampe an, in deren Licht ihn sein Vater einst im Schlafe betrachtet hatte, und stieg gelassen die Treppe zum Oberstock hinauf. Hier war alles noch unverändert. Kaum ein wenig Verwüstung und Verschmutzung machte sich bemerkbar. Die Plünderer hatten nur die leichteren Gegenstände fortgetragen, Schränke und Bettstellen standen auf ihrem alten Fleck. Stephan trat zuerst in sein Zimmer und starrte lange auf die windbeschäftigte Gartenlandschaft im ausgehängten Fenster und auf die schwarze Masse des Musa Dagh. Die Sinnverrückung ließ ihn wähnen, er wäre niemals dort oben gewesen, wo sich die Kammlinie des Damlajik gegen den mattscheinenden Himmel abzeichnete. Mama und Papa schliefen daneben in ihrem Zimmer und ihm war, als sollte er sich selbst sogleich zu Bett begeben. Mühsam besann sich Stephan erst wieder seiner Aufgabe. Nicht um der Gefahr zu entgehen, sondern um Iskuhi nicht zu stören, schmiegte er sich auf Fußspitzen in ihr kahles Zimmerchen. Außerhalb des stumpfen Lichtkreises der Taschenlampe war es voll von ihr. Im Lichtkreis aber stand ein halbzerbrochener Stuhl wie ein verschmähtes Wesen. Und unter diesem Stuhl, besudelt und zerrissen, lagen ein paar Bücher. Auch die Konfirmationsbibel. Sie war unversehrt. Das Elfenbeinkruzifix fand sich nicht. Glückstrahlend drückte Stephan Bücher und Bibel an sich und lief mit laut polternden Schritten über die Treppe hinab, durch den Flur und vors Tor. Die Gefährten warteten weit hinten im Schatten. Er aber, der sie nicht gleich sah, rief ihnen, in seiner Geistesbefangenheit völlig von Gott verlassen, mit kräftiger Stimme zu:
»Hagop, Sato! Wo seid ihr? Da seht her! Ich hab's!«
Der Hall dieser Worte in der leeren Wölbung der Nacht war so laut, daß es sich oben auf dem Dache des Hauses sofort zu regen begann. Gestalten schwankten auf. Ein Baß grölte etwas hinunter. Dann keiften Weiberstimmen dazwischen. Der Hexenkreis am Rande des Freiplatzes stob auseinander und davon. Man hörte Hagops Krücke eifrig den Boden klopfen. Stephan verblieb noch immer wie gelähmt auf dem hellsten Platz des Vorhofs. Der kleine Lichtpunkt der Taschenlampe glomm still in seiner Hand. Erst als die Peitschenhiebe der Gewehrschüsse um seine Ohren pfiffen und es im Innern des Hauses zu rumoren begann, riß er sich von sich selbst los und begann in großen Sprüngen zu fliehen. Doch wohin? Es zeigte sich nun, wie tief Stephan, das Kind der Avenue Kleber, den Söhnen dieser Ost-Erde trotz all seiner ehrgeizigen Bemühungen unterlegen war. Während sogar der einbeinige Hagop mit seiner klappernden Krücke spurlos im unzugänglichen Nichts verschwand, lief der Rasende durch den östlichen Gartenausgang den Dorfweg nach Yoghonoluk hinab. Den städtischen Knaben zog das Gebahnte an. Es war wie ein Zwang seiner Natur, obgleich er spürte, daß er eine unsinnige Richtung nahm. Er wäre fast den Saptiehs in die Arme gelaufen, die, durch die Schießerei aufgestört, jetzt, die entsicherten Gewehre in der Faust, vom Kirchplatz heranstürmten. Stephan trat zur Seite und kauerte sich in den Graben. Das Wunder geschah. Die Saptiehs rannten an ihm vorüber. Diesen aber kamen die Mohadschirleute entgegen, brüllend und wild fuchtelnd. Die Türken schienen allesamt von einer rasenden Angst gepackt. Sie vermuteten einen plötzlichen Überfall der armenischen Krieger. Sie schossen wie Wahnsinnige nach allen Seiten, teils um ihre Furcht loszuwerden, teils um die Posten in den anderen Dörfern durch Schnellfeuer zu Hilfe zu rufen. Erst als sich der Lärm gegen Nordwesten verzogen hatte, warf sich eine blinde, richtungslose Todesangst über Stephan. Wie ein Käfigvogel, der das Fliegen verlernt hat, taumelte er an einer verfallenen Mauer vorbei in das Gelände hinaus. Er geriet in einen verwilderten Obstgarten, dessen Gestrüpp ihn kaum losließ, keuchte über einen Abhang, der mit schlangenartigen Kriechreben bespannt war, stürzte, raffte sich hundertmal wieder auf, bis er endlich dieser Falle entkam. Dann war weiche Erde unter seinen Füßen, dann wieder eine Steinhölle. Plötzlich mußte er sich durch ein unüberwindliches Dickicht hindurchdrehn, das ihm Dornen und stahlscharfe Blätterschwerter entgegenstreckte. Er stolperte weiter, keines Gedankens, keines Zieles mehr fähig. Nun bekam er zu spüren, daß der Entari-Kittel der Bewegungsart seines Körpers nicht entsprach und ihn beim Laufen wie ein tückischer Feind hemmte. Seine Hände, seine Füße waren mit brennenden Rißwunden bedeckt, das Gesicht in Schweiß gebadet. Auf einer Lichtung sank er zusammen. Er wußte nicht, wo der Damlajik war, wo Yoghonoluk, wo er selbst. Eine kleine Ohnmacht nebelte ihn für zwei Minuten ein. Doch seine Kräfte kehrten schnell zurück. Die Todesangst zerrann und ein wunderbarer Gleichmut trat an ihre Stelle. Er streckte sich aus, wie zum Schlaf. Der überreiche Himmel der Augustnacht stand unbeweglich über ihm. Unter den Milliarden Sternen flimmerte keiner. Stephan war allein in und mit der ganzen Welt. Er wußte, daß Vater und Mutter ihm nicht helfen konnten. Das erstemal erlebte sein Kindergeist das Gefühl der Allverlorenheit, der erbarmungslosen Vernichtungsjagd im Raume, der mit zahllos eisigen Augen zusieht. Kinder reicher Leute, die im Mittelpunktswahn aufgewachsen sind, lernen niemals oder sehr spät erst dieses Gefühl kennen, das jedes verfolgte Tierchen überwältigt, wenn es, in eine Mulde geduckt, den Atem anhält. Es war ein gutes, ein sehr wohliges Gefühl. Stephan brauchte gar nicht an Iskuhi zu denken. Wenn man daliegt, so erdangeschmiegt, so weltanheimgegeben, dann kann auch das Schlimmste nicht allzu schlimm sein. Er starrte in den Himmel. Dort oben fing ein Atmen an, ein Lichtgewoge, ein Näherkreisen. Weich hob es Stephan auf und küßte ihn, weil er so schwach war, so wehrlos, verlassener als irgend etwas. Alle Wonne der Welt sammelte sich in einem einzigen Punkt, und dieser Punkt lag mitten in ihm selbst. Er wußte nicht, was mit ihm geschah. Zum erstenmal im Leben ergoß sich sein Geschlecht. Er schlief ein, verschmolz mit der Erde, totenhaft.
Stimmen in der Nacht weckten ihn. Die Saptiehs schienen ihre Jagd auf diesen Platz auszudehnen. Sie knallten ein paar Schüsse aus dem Gehölz. Dann wurde es still. Stephan glaubte