Ja, Stephan war verwandelt. Doch wieviel Mühe diese Rückverwandlung ins Primitive ihn gekostet hatte, das wußte niemand. Er besaß nun die gleichen Gewänder wie die anderen. Diese Gewänder aber waren anfangs schmachvoll rein und ohne Riß. Die Sauberkeit war eine Schwäche – dies erkannte er –, deren Sitz in ihm selbst lag. Er konnte ein beklemmendes Gefühl nicht loswerden, wenn er schmutzige Hände und Füße, schwarze Nägel und ungekämmte Haare hatte. Als er eines Tages, noch in Yoghonoluk, sich Kopfläuse zugezogen, wand Mama mit angeekelten Händen ein petroleumgetränktes Handtuch um sein Haar, und er fühlte sich tief unglücklich. Stephan war der Dorfjugend gegenüber ständig im Nachteil. Seine Füße zum Beispiel blieben zart und weiß, wieviel Mühe er sich auch gab, mit ihnen in Staub, Schmutz, Schlamm umherzuwaten und sie allen möglichen Klettergefahren auszusetzen. Das einzige, was er erreichte, war Sonnenbrand, Blasen und Schrammen, die ihm außer heftigen Schmerzen auch noch Hausarrest zuzogen. Wie beneidete er die unverwundbaren Füße seiner Kameraden, braune dürre Tiertatzen, ihm unendlich überlegen. Bitter mußte Stephan leiden, ehe er sich durchsetzen konnte. All diese Haiks und Hagops, diese Anahids und Sonas sahen in ihm die längste Zeit nur einen Parvenü der Verwilderung. Geht es nämlich um Macht- und Gleichberechtigungsfragen, dann entwickeln selbst einfache Naturkinder den gehässigen Kastengeist eines bevorzugten Standes. Die Dorfjungen ließen Stephan fühlen, daß er nicht ihresgleichen sei und daß sein strahlendes Vaterhaus samt Herrn Awakian und dem Dienertroß ihnen nicht genug Achtung einflöße, um ihm »Echtheit« zuzuerkennen. Was hatte nun Stephan, der sonderbare Streber, in diesem Ringen einzusetzen? Ehrgeiz, Energie, die sich oft gegen seinen eigenen Körper richtete, und noch eine wichtige Eigenschaft dazu, die der Bauernjugend abging. Selbst Haik, über vierzehn Jahre schon, hoch aufgeschossen und muskelstark, das unbestreitbare Haupt der Bande, besaß das gesammelte, planende und folgerichtige Denken nicht, das Stephan aus Europa mitgebracht hatte. Diese orientalischen Kinder vergaßen ihre Pläne meist schon vor der Ausführung, sie wurden von ihren kurzatmigen Einfällen, von ihrer dumpfen Triebhaftigkeit herumgewirbelt wie Laub im Wind. Sah man ihnen nach der Schulzeit zu, so glichen sie einem erregten Tierrudel, das, sinnlos und unbekannten Regungen folgend, bald hierher stürmt, bald dorthin, ohne jedes ersichtliche Ziel. Wenn sie sich wie ein Vogelschwarm zu unbewachter Stunde auf die weiten Obstgärten niederließen, so konnte das noch als ein zweckhaftes Unternehmen gelten, weit öfter jedoch strichen sie, wie vom Dämon besessen, ins Bergdickicht oder zu einem seichten Tümpel oder auf ein Feld hinaus und begannen sich zu wälzen und zu suhlen. Diese Streifzüge endeten oft mit einer religiösen oder besser mit einer heidnischen Kultzeremonie, deren sie sich selbstverständlich nicht bewußt waren. Es begann damit, daß sie eine Runde bildeten, sich umfaßten, erst leise summend die Köpfe wiegten, dann ihre Stimmen und rhythmischen Bewegungen immer höher steigerten, bis alle zuletzt in einen heulenden Taumel sondergleichen gerieten. Auf manche unter ihnen wirkte diese Zeremonie so stark, daß sie die Augen verdrehten und Schaum vor dem Mund hatten. Sie übten damit in ihrer Einfalt nichts anderes als den altbekannten Versuch gewisser Derwischorden, sich durch epileptische Ichüberwindung mit den planetarischen Urkräften in geheimen Zusammenhang zu setzen. Von Erwachsenen hatten sie Ähnliches niemals gesehen, aber das Bedürfnis nach solchen Übersteigerungen lag in der Luft dieses Landes. Stephan, der Europäer, stand natürlich während derartiger Ekstasen hilflos abseits. Doch auch der große bedächtige Haik beteiligte sich an diesen Ausbrüchen nicht, vielleicht deshalb, weil er sich all jener Kräfte bis zum Rande voll wußte, welche die anderen durch ihr Gewiege und Geheule in sich hineinsoffen. In anderen Stunden wiederum gelang es Stephan, planvolle Unternehmungen zu veranstalten, und siehe da, nach einigen Erfolgen in dieser Richtung hatte er sich allgemach ein Ansehen errungen. Die volle Obmacht über seine Altersgenossen konnte er nicht an sich reißen. Eine Kraft fehlte ihm und mußte ihm fehlen, und zwar jene Kraft, welche das Leben dieser Jugend am mächtigsten beherrschte: hellsichtige Naturverschwisterung, die sich mit Worten gar nicht ausdrücken läßt. Wie ein guter Schwimmer in den Fluten liegen, sitzen, stehen, gehen, tanzen kann und mit unbeschreiblicher Körperfreude »in seinem Element ist«, so waren die Kinder des Musa Dagh im Umkreis des Berges unbeschreiblich in ihrem Element. Sie waren durchwoben von der Natur ringsum. Diese Natur war ihnen so eingefleischt, daß es kein Außen und Innen mehr gab. Jedes Blatt, das sich im Wind bewegte, jede Frucht, die vom Baume fiel, das Rascheln einer Eidechse, das Zirpen eines weit entfernten Wässerchens, all diese Tausendfalt wurde von ihren Sinnen nicht gespiegelt, sondern begab sich unmittelbar in diesen Sinnen, als sei jedes von ihnen ein kleiner Musa Dagh in Person, der alles aus sich selbst hervorbringe. Ihre Körper waren wie Brieftauben, die durch einen übermenschlichen Orientierungssinn sich nie verirren können. Ihre Körper waren wie dünne, schmiegsame Wünschelruten, die über allen verborgenen Erdschätzen zuckenden Ausschlag geben. Mit ihnen verglichen, besaß der Knabe Stephan, der allzulange das tote Pflaster getreten hatte, einen zwar geschickten und ehrgeizigen, aber stumpfen Körper.
Als dann das Volk auf dem Damlajik sein Lager aufschlug, als die leeren Streifzüge aufhören mußten und von der Jugend Disziplin und zielvolle Tätigkeit gefordert wurde, da wuchs das Ansehen Stephans immer höher, nicht zuletzt durch den kriegerischen Führerrang seines Vaters, der auf ihn abglänzte. Die Kohorte der Halbwüchsigen bestand aus Burschen zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Die wenigen Mädchen darunter waren keines über elf Jahre, da in jenen Gegenden die weiblichen Zwölfjährigen schon als reif gelten. Auch für die größeren Burschen sollte auf Ter Haigasuns Geheiß in den dienstfreien Stunden Schule gehalten werden. Es kam aber nie dazu, da die Lehrer, die entweder in den Stellungen oder in der Lagerverwaltung beschäftigt waren, keine Zeit hatten oder sich vom Unterricht drückten, den sie für gänzlich überflüssig hielten. Wenn man von Hapeth Schatakhian absieht, der den Befehl über die Spähergruppe führte, und von Samuel Awakian, der den Dienst der Ordonnanzen einteilte, so hatten die dreihundert und mehr Jungen, aus denen die leichte Truppe bestand, fast keine Oberaufsicht und blieben den größten Teil des Tages sich selbst überlassen. Es bildete sich daher aus den kräftigsten und verwegensten Gesellen eine freie Bande, die sich die Zeit auf eigene Faust vertrieb. Dies waren etwa fünfundzwanzig oder dreißig Burschen, die sich durch Hochmut und Tatendurst aus der breiten Plebs heraushoben. Sie trieben sich auf der Hochfläche des Damlajik herum und machten jede Kuppe, Schrunde und Schlucht unsicher. Sie wagten es auch, ihre Spiele bis in die Stellungen vorzutragen und die unter Nurhan Elleons Fuchtel übenden Zehnerschaften durch ihr neugieriges Herumlungern zu erbittern. Man verbot ihnen das unnütze Schweifen. Da wurden sie frech und verlegten ihre Tätigkeit auf das Gelände außerhalb des Verteidigungskreises, auf die Höhen jenseits des Sattels, auf den talzugekehrten Bergabhang, in die Felsenritzen und Wasserrinnen der Küstenseite. Eine Grenzübertretung der Stellungen galt auf dem Damlajik als ein Verbrechen. Die Bande aber wußte ihre Fürwitzigkeit so zu verschleiern, daß sie unentdeckt blieb. Stephan und Haik gehörten dazu, das war klar. Doch auch Sato hatte sich eingeschlichen und man konnte sie nicht loswerden. Obgleich die Familie Bagradian dem ortsfremden Bastard in ihrem Hause Zuflucht gewährt hatte, duldete ihn das Volk nur ungern im Kreise der Kinder. Deshalb war Sato völlig von der Laune der Horde abhängig. Einmal wurde sie