Die Türken brauchten sehr lange, um sich zu erfangen. Die Offiziere und Unteroffiziere hatten schwere Mühe, die Flucht aufzuhalten. Sie mußten mit flacher Säbelklinge und Gewehrkolben die Jammernden zurückjagen. Inzwischen wurden die beiden Züge, die vom Feuer nichts abbekommen hatten, vorgetrieben. Doch anstatt zuerst eine wirksame Angriffslinie zu finden, suchte die neue Schützenreihe an den ungeeignetsten Punkten hinter Büschen und Steinblöcken Deckung, ohne auch nur die Ahnung des Armeniergrabens vors Korn zu bekommen. In die Sträucher und Legföhren entlud sich ein sinnlos tolles Geknatter und Geknalle, das nicht den geringsten Schaden anrichtete. Nur manchmal sang ein Geller über die Köpfe der Verteidiger hinweg. Gabriel Bagradian ließ folgenden Befehl den Graben entlang laufen:
»Nicht schießen! Gut decken! Warten, bis sie wiederkommen!«
Zugleich sandte er in die Seitenstellungen Botschaft, wer es wage, einen Schuß abzugeben oder auch nur sein Gesicht zu zeigen, werde als Verräter behandelt werden. Kein Türke dürfe vom Vorhandensein der Sicherungsriegel die leiseste Ahnung haben. Die armenische Sattellehne lag ausgestorben wie vorher. Die Verteidiger schienen durch das rasende Türkenfeuer alle ums Leben gekommen zu sein. Nach einer Stunde dieser wüsten Munitionsverschwendung versuchte die Kompanie in vier tollkühnen Wellen einen neuen Sturm. Die Armenier, jetzt noch weit sicherer als das erstemal, ließen die Wellen wieder nahe herankommen, ehe sie ihnen abermals den Untergang bereiteten, noch blutiger und entsetzlicher als früher. Jetzt konnten die Chargen der Flucht nicht mehr Halt gebieten. Im Nu war der Sattel leergefegt. Nur das Zetern der Verwundeten stieg aus dem Unterholz. Schon wollten einige der Armeniersöhne aus dem Graben klettern. Bagradian brüllte sie an, niemand habe Befehl erhalten, seinen Posten zu verlassen. Nach einiger Zeit wagten sich türkische Sanitätsmänner mit Tragbahren zwischen den Bäumen vor und begannen mit einer Rotenmondfahne zu winken. Gabriel Bagradian schickte ihnen Tschausch Nurhan ein paar Schritte entgegen. Dieser machte Zeichen, daß sie herankommen möchten. Dann schrie er ihnen zu:
»Die Toten und Verwundeten könnt ihr mitnehmen. Gewehre, Munition, Tornister, Patronentaschen, Brotbeutel, Montur und Stiefel bleiben hier!!«
Daraufhin waren die Sanitätssoldaten unter Drohung der auf sie gerichteten Läufe gezwungen, die Toten und Verwundeten bis auf die Unterkleider auszuziehen und das Geforderte in schmählichen Haufen liegenzulassen. Nachdem sie dann mit den Opfern verschwunden waren – es dauerte lange Zeit, weil sie immer wiederkehren mußten –, waren alle Kämpfer, einschließlich Tschausch Nurhans, der Meinung, der Angriff sei vollkommen abgeschlagen und kein neuer Ansturm zu erwarten. Gabriel hörte auf diese verführerischen Stimmen nicht, sondern befahl Awakian, die besten Burschen aus der Kundschaftstruppe der Jugend vorzuschicken und einen Teil der Ordonnanzgruppe antreten zu lassen. Letztere erhielt den Auftrag, die erbeuteten Gewehre, Tornister, Magazine und Uniformen in größter Eile einzusammeln und hinter die Linie zu bringen. Unter den Spähern suchte er vier der geschmeidigsten aus. Sie mußten der Kompanie folgen, um ihre Bewegungen genau zu beobachten. Ehe die Ordonnanzen noch mit dem Einsammeln fertig waren, kehrte Haik, ein Junge, der nur wenig älter als Stephan zu sein schien, bereits mit der Meldung zurück, ein Teil der Türken erklettere weiter oben im Norden den Berg, an einer Stelle, wo doch gar nichts zu finden sei.
Es konnte sich nur um einen Umgehungsversuch von der Meerseite her handeln. Darüber war sich nach dieser Meldung nicht nur Gabriel Bagradian klar, sondern auch Tschausch Nurhan und andere. Gabriel übergab das Kommando dem verläßlichsten Gruppenführer und verließ mit Nurhan den Graben. Sie kletterten zu den kampfgierigen Männern, die hinter den Felsbarrikaden standen. Die Kinder des Musa Dagh kannten jeden Block, jeden Vorsprung, jede Grotte, jeden Strauch, jede Agave auf diesem nackten zerfressenen Kalkgefelse, unterhalb dessen die zerrissenen Steilwände jäh oder stufenweise oft zwei- und dreihundert Meter tief ins Meer stürzten. Diese Kenntnis des Berges war ein unberechenbarer Vorteil jeder Truppe gegenüber, die sich hier nicht zurechtfand, mochte sie so stark sein, wie immer sie wollte. Bagradian überließ es den Bergsöhnen, sich selbst in den Schrunden und hinter den Felsmassen so klug zu verteilen, daß die Verbindung immer aufrechterhalten blieb und keiner ins Feuer des andern geraten konnte. Die Aufgabe war die gleiche wie früher, den Feind durch vollständige Unsichtbarkeit und Totenstille vor- und ins Verderben zu locken. Dieser aber war nun schon gewitzter. Seine Hauptmacht schob er langsam auf den Gegenhöhen dem Sattel entgegen und eröffnete schon am Waldesrand, hinter den Bäumen gut gedeckt, ein überstürztes und doch ängstliches Feuer auf den großen Graben, das von der Besatzung wieder nicht zur Kenntnis genommen wurde. Währenddessen aber tauchte, von den Spähern angesagt, eine Patrouille von vier Mann mit der größten Zaghaftigkeit im Felsgebiet auf. Man sah weithin, daß es keine Männer des Gebirges waren, sondern Männer der Ebene. Unbeholfen im Gestein fußfassend, duckten sie sich von Deckung zu Deckung. Mit Umsicht rekognoszierten sie, blickten in jedes Loch und hinter jede Kante. Die Armenier erkannten mit Wollust im Herzen, daß es Saptiehs waren. Die Soldaten waren Fremde. Was aber die Saptiehs waren, wußte jeder. Nun kam der Augenblick, es diesem niedrigsten Raubzeug des Militarismus